21. November 2024
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Die Leipziger Buchmesse 2023 – mehr als ein Lesefest

Eingang Buchmesse Leipzig
Lesedauer ca. 4 Minuten

Vom riesigen Leipziger Hauptbahnhof fährt alle paar Minuten die Tram Nr. 16 nach Norden zum Messegelände (S-Bahnen auch, aber im Gegensatz zur Tram nicht ganz bis zum Eingang). Um 10 Uhr, wenn die Messe öffnet, und am späteren Nachmittag zurück ist sie so voll wie die U-Bahn in Tokio zur Stoßzeit. Nach drei Jahren Zwangspause ist das Publikumsinteresse riesig und die Stimmung ausgelassen. Im ausgedehnten Messegelände ist Platz für eine sehr breite Interpretation von “Buch”. Die Manga-Comic.Con in Halle 1 präsentiert Mangas und andere Comics sowie Anime und allerhand Fanartikel. Das zieht zahlreiche Cosplayer an, fantasievoll verkleidete junge Menschen, die sich auf diese Weise in Figuren aus ihren Lieblingsserien verwandeln.

Im Gegensatz zu Frankfurt, wo Verhandlungen innerhalb der Branche im Zentrum stehen, das Publikum nur geduldet ist und erst am letzten Ausstellungstag Bücher erwerben darf, geht es in Leipzig vor allem um genau dieses Publikum. Jeder Stand verkauft eigene Bücher, Kleinverlage in 4 m² Kojen, Großverlage in viel großzügigerem Ambiente. Doch auch in Leipzig kommen Verlagsleute miteinander ins Gespräch.

Verleger Volker Toth Edition Tandem und Autor Christoph Janacs präsentieren die neue Essayreihe, Alle Fotos: Brigitte Scott

In jeder der fünf Hallen gibt es außerdem Plätze für die verschiedenen Präsentationsformate. Manche nennen sich Café, etwa Café Europa mit Podiumsdiskussionen zu aktuellen, eher politischen Themen, oder Café Musik mit – unter anderem – spontanen  Mitmachkonzerten. 

Neu in diesem Jahr: „buchbar“, eine Art Café, in dem Autor:innen kurz mit Moderator:innen plaudern und sich dann mit Besucher:innen an den Tisch setzen und sich in Gespräche verwickeln lassen. Das funktioniert erstaunlich gut in lockerer Atmosphäre.

mea ois wia mia: Gastland Österreich

Der Slogan sollte wohl clever sein, stellt aber nicht nur die Deutschen vor Verständnisprobleme. Für die grafische Gestaltung sind vier gleich lange Wörter mit je zwei Vokalen natürlich ideal. Aber die Erweiterung einer „mia sein mia“-Mentalität durch das „mea“ erschließt sich nicht so leicht. Um etwas damit assoziieren zu können hilft es, wenn man die Wiener Gruppe um H.C. Artmann oder Ernst Jandl kennt.

Die Gastlandbühne jedenfalls bringt den Beweis, dass Österreich literarisch viel zu bieten hat. Gut vorbereiteten Moderator:innen wie Daniela Strigl oder Klaus Kastberger gelingt es, selbst in knapp halbstündigen Gesprächen Autor:innen interessante Aussagen über ihr Schreiben zu entlocken und auch noch kurze Lesebeispiele unterzubringen, in denen die Stimme des/der Schreibenden deutlich wird.

Birgit Birnbacher u Klaus Kastberger

Die Themen sind äußerst vielfältig: Von der Würde der Empörten schreibt Lukas Meschik im gleichnamigen Buch, Clemens Setz untersucht eine ältere Form von verrücktem Querdenkertum, noch bevor es den Begriff gab. Birgit Birnbacher macht sich Gedanken über die Bedeutung und Rolle von bezahlter und unbezahlter Arbeit. Karin Peschka versucht eine „Korrektur der Erinnerung“ an ihre Kindheit in Eferding. Evelyn Schlag spürt der Zerrissenheit einer Frau zwischen zwei Männern und ihrem zurückgelassenen Kind nach. Bodo Hell schließlich breitet genussvoll und spielerisch seine Beobachtungen und sein Wissen über die Natur aus.

Als Autor wirft Klaus Kastberger in „Alle Neune“ einen kritischen Blick auf den „Eigensinn der österreichischen Literatur“. Günter Kaindelsdorfer zeichnet mit den Autor:innen Gerhard Ruiss, Anna Weidenholzer, Verena Gotthardt und Karl-Markus Gauß ein Bild von der Vielfalt der österreichischen Gegenwartsliteratur und vom Umgang mit Sprache.

Im Café Europa bricht dann der Krieg in das Schreiben und das Lesefest ein. Hier tauschen sich ukrainische Autor:innen wie Kateryna Mishchenko und Nelia Vakhobska mit dem Osteuropakenner Karl-Markus Gauß und dem Soziologen Ludger Hagedorn vom Institut für die Wissenschaft vom Menschen aus und berühren das Publikum.

Café Europa

Ein eigener Bereich war dem Übersetzen von Literatur gewidmet, eine anspruchsvolle Tätigkeit, der wir die Bekanntschaft mit Büchern verdanken, die uns im Original verschlossen blieben.

Diese wenigen Beispiele müssen reichen, denn es gilt auch noch davon zu erzählen, wie das Buch die ganze Stadt erobert. Einerseits verschiedene Bühnen in der Stadt, „echte“ wie die Schaubühne Lindenfels, aber auch Sportzentren, das Literaturhaus, Museen und Galerien. Das Café Grundmann nennt sich das „wienerischste Café in Leipzig“ und kocht während der Messe österreichisch, z.B. für die Kriminacht nach dem Kochbuch von Eva Rossmann, die mit acht (!) weiteren Autor:innen des Genres einen guten Einblick in die Bandbreite des Kriminalromans in Österreicht bietet.

Kriminacht: v.l.n.r. Bernhard Aichner, Paulus Hochgatterer, Eva Rossmann, Manfred Rebhandl, Thomas Raab

So viele Eindrücke, es schwirrt einem der Kopf und man kehrt mit einigem neuen Lesestoff nach Hause zurück – und mit einem neuen Witz:

Was sucht ein Hund wie du auf der Buchmesse? – Belletristik!

2024 sind die Niederlande und Flandern Gastland in Leipzig.

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Brigitte Scott

Brigitte Scott lebt seit 20 Jahren in Inzing und ist hier im Chor Inigazingo, im Kulturausschuss als Vertreterin der Liste JuF und im Kulturverein aktiv. Bis zum Ende der gedruckten Dorfzeitung war sie viele Jahre deren (Mit)herausgeberin und vor allem an Kulturberichterstattung interessiert. Brigitte ist ursprünglich aus Salzburg und lebte 16 Jahre in England. Ihrem Beruf als Übersetzerin und Lektorin geht sie in reduziertem Umfang auch jetzt in der Pension noch nach. 2009 engagierte sie sich im Projekt Radio Enterbach und davor im Literaturprojekt Andern(w)orts, beide vom Kulturverein. Sie liebt Musik, als Chorsängerin und als rege Besucherin von Konzerten. Sie ist Mitglied des English Reading Circle, der sich jedes Monat trifft, um ein bestimmtes Buch zu besprechen, natürlich auf Englisch. Sie gartelt mit Freude, aber hauptsächlich nach der Methode "Versuch und Irrtum". Trotzdem findet sie immer wieder genug zu ernten, um ihrer Kochleidenschaft zu frönen. Saisonale und indische Küche, die sie in England erlernt hat, liebt sie besonders - und ihre Gäste ebenfalls.

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