25. April 2024
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Alte Wege endlich verlassen
Durch Corona provozierte Reflexionen zur Thematik exzessiver Formen der Tourismusindustrie in Tirol und anderen vergleichbaren Regionen Österreichs

Von Winfried Herbst in den SN

Foto: Ernst Pisch
Lesedauer ca. 5 Minuten

Vorbemerkungen
Aufgrund der massiven physischen Kontaktbeschränkungen und der damit zusammenhängenden Absage von Veranstaltungen und Treffen jeglicher Art ist es für unsere AutorInnen derzeit relativ schwierig, ortsbezogene Artikel zu liefern. Daher möchten wir zwischendurch interessante und v. a. kritische Stimmen von renommierten Medien zum alles überstrahlenden Thema der Corona-Pandemie zu Wort kommen lassen.
Hier ein Artikel, der am 6.4.2020 in den Salzburger Nachrichten erschienen ist und mit ausdrücklicher Zustimmung des Autors im Blog der DZ Inzing wiedergegeben werden kann.

Es versteht sich von selbst, dass die Inhalte dieses Beitrags die prononcierte Meinung des Autors und nicht zwangsläufig die der Redaktionsverantwortlichen der DZ darstellen.

Um verschiedene Zugänge zu diesem Thema kennenzulernen, möchten wir jedoch alle LeserInnen einladen, ihre Standpunkte unter Benutzung unseres Diskussionstools “Kommentar” öffentlich zu vertreten.
(Luis Strasser)

Was wird die Anamnese der Tiroler Fremdenverkehrsindustrie nach dem Coronadesaster ergeben? Welche Schlüsse werden dort und darüber hinaus im Tourismusland Österreich gezogen?

Kapital wird gegenwärtig schlecht verzinst. Eigentlich nichts Neues – denn seit der Entfesselung der Wirtschaft hat auch die Erhaltung der Artenvielfalt oder die Bewahrung ausreichender natürlicher Lebensräume keine Rendite gebracht. Gleiches gilt für die landwirtschaftlichen Böden, die essenzielle Basis für die Erzeugung von Nahrungsmitteln. Seit Langem wird nicht nur schlecht verzinst, schlechter noch: Die genannten Bereiche haben Negativzinsen geliefert. Die Erträge eines kleinen oder mittleren bäuerlichen Betriebs sind heute meilenweit von dauerhafter Existenzsicherung entfernt. Die Zahl der Milchlieferbetriebe etwa ist in den letzten zwanzig Jahren auf fast ein Fünftel ihres Ausgangsniveaus vor unserem EU-Beitritt gesunken. Daran konnte auch die für die Artenvielfalt dramatische Intensivierung der Produktion nichts ändern.

Andererseits brachte aber die weit über das Notwendige hinausgehende Zerstörung der unverzichtbaren Ressourcen üppige Rendite. Eine von Ökonomie und Politik gewollte und abgesegnete Entwicklung. Der umsichtige Umgang mit der Natur, deren Teil wir sind und bleiben werden, ist unter dem Primat der wirtschaftlichen Interessen auf der Strecke geblieben.

Wie Dr. Tulp Verborgenes sichtbar macht in der von Rembrandt von Rijn ins Bild gesetzten Sektion eines menschlichen Körpers (“Anatomievorlesung des Dr. Tulp”), legt nun ausgerechnet eine Krankheit die Mechanismen, die unsere Gesellschaft antreiben, am Beispiel des Tiroler Skiortes Ischgl gnadenlos bloß.

Foto: Robert Pisch

Thomas Mayer analysiert in einer österreichischen Tageszeitung [Der Standard – Anm. der Redaktion] vom 16. März: “Die Gier hat die Verantwortung für die Gesundheit der Bürger und der Gäste besiegt. Man wollte diese letzte ‘starke Tourismuswoche’ noch mitnehmen”. Verschneidet man diese Beobachtung mit einer ebenfalls in dieser Zeitung publizierten Erkenntnis des Thomas Piketty (Interview mit dem Autor des Bestsellers “Das Kapital im 21. Jahrhundert”), dass die Corona-Krise plötzlich die faktische Macht der Politik offenbart, deutet sich damit etwas Fundamentales an. Daran zu denken war zuletzt fast gewagt: Die Politik kann sich aus den Denk- und Sachzwängen befreien, in die sie sich eingesponnen hat. Das ist auch unabdingbar, um wirksame und nicht weiter aufschiebbare Maßnahmen zum Überleben der Menschheit zu veranlassen. Die jetzige Krise und das Echo, wie die Gesellschaft auf die verordneten Beschränkungen reagiert, zeigt das ganze Potenzial auf, das in unserer Gesellschaft steckt. Das “Immer mehr ich” (Gottfried Keller) fällt zurück in den Schoß einer solidarischen Gemeinschaft. Das muss auffallen und ins kollektive Bewusstsein rücken. Es gibt den Rücken frei auch für scheinbar unpopuläre Maßnahmen.

Wenn das Corona-Virus immer mehr Menschen erfasst, wenn Angst und Sorge wachsen und so etwas wie Tiefenangst gesellschaftsfähig wird, zeigt der Staat Verantwortung. Es fällt ihm wohl nicht sehr schwer, weil er dabei auf das kollektive Gedächtnis zurückgreifen kann, das von Pest und Cholera über die Spanischen Grippe bis zur Corona-Pandemie reicht. Angst um die eigene Gesundheit oder gar das eigene Leben ist durchgeschlagen, ist real und begreifbar, auch wenn die Gefahren unsichtbar sind.

Unser kollektiver Erfahrungsschatz im Umgang mit den Umweltgütern verheißt uns hingegen bei aller erkennbaren Bedrohung so etwas wie permanente Hoffnung. Sie ist indes trügerisch und entbehrt des realen Hintergrunds – als wenn diese Hoffnung auf einem Planeten mit acht Milliarden Menschen mit ihren acht Milliarden Ansprüchen weiterhin so gültig sein könnte wie bisher. Bei meinem Schuleintritt waren es bloß zwei Milliarden. Was im Unbewussten weiter wirkt, ist das Narrativ: Die Völker haben sich dann in Bewegung gesetzt, wenn Ressourcen verbraucht, der Wald abgeholzt, das Wasser versiegt oder die Böden ausgelaugt waren. Der Raum war weit, die Natur kräftig genug, um sich von lokalen oder regionalen Schlägen zu erholen. Aber heute ist heute: Wir teilen den Platz und unsere Ansprüche mit unvorstellbar vielen Menschen. Gesellschaftliche Krisen werden schon ausgelöst, wenn sich eine Million Menschen aus einem Kriegsgebiet nach dem großen Europa aufmacht und Asyl sucht. Aber hat das unseren Umgang mit dem Planeten und dem fragilen Gleichgewicht seiner Lebensräume verändert? Ischgl und das Paznauntal sind ein Synonym für Hemmungslosigkeit und Ballermann-Verführung, als visionär gelobt und gefeiert.

Pinguine auf den Tiroler Gletschern zur Schau stellen wollen, ein 170 m hohes gläsernes Kreuz als neue Landmark im “heiligen Land” Tirol zu planen (wohl zum Andenken an die Erinnerung) sind nur zwei Visionen des “mit dem Penis” denkenden Ischgler Hoteliers und Tourismusmanagers Günther Aloys. Er war und ist eine touristische Galionsfigur, ein Maßstab für andere in den touristischen Hexenküchen, finanziell erfolgreich und armselig gleichzeitig. Und es mutet an, als hätte er seinen Penis auch als Dirigierstab verwendet, wenn er die Tiroler Politik hinter sich hermarschieren ließ, um immer kühnere Projekte durchzusetzen. Die Ignoranz gegenüber den ersten Warnungen vor einem Hot Spot des Corona Virus in Ischgl entspringt dieser Geisteshaltung. Zurückgeblieben ist eine tirolische Erschlaffung.

Was wird die Anamnese der Tiroler Fremdenverkehrsindustrie nach dem Coronadesaster ergeben? Welche Schlüsse werden dort und darüber hinaus im Tourismusland Österreich gezogen? Etwa, dass jede Form von Solidarität und Reziprozität zerstört wird, wenn Gesellschaft und Politik weiterhin den lauten Ansagern kritiklos folgen und alle Beziehungen samt jener zur Umwelt nur zum Marktwert rechnen? (Ein Quadratmeter landwirtschaftliches Grünland erlöst beim Verkauf fünf Euro, ein Quadratmeter Bauland hingegen 500 Euro). Wird der großspurige und doch gehaltsarme “Plan T”, das Leitbild für die Tourismuswirtschaft in Österreich, mit dem Notwendigen ergänzt werden und endlich die ökologische Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt gerückt? Durch einen “Plan M” ergänzt, der Moral und Zukunftstauglichkeit in die Programmatik des Tourismus einführt? Wird man nun auf die geplante Skiverbindung zwischen dem Pitz- und dem Ötztal verzichten? Denkt man weiterhin an den Bau einer Seilbahn von Krimml nach Hochkrimml oder auf den Hochsonnberg bei Piesendorf? Das verzweifelte Nachbessern von Gesetzen wie dem Raumordnungsgesetz in Salzburg reicht schon lang nicht mehr aus, um dem Zerstörungspotenzial Herr zu werden. Es ist ein Nachhumpeln der Legistik hinter einem Heer von Advokaten, die in den unübersichtlichen Regelungen des immer wieder gekleisterten Gesetzes mindestens so oft neue Schlupflöcher aufspüren. Alle Versuche, diese Geschäfte einzudämmen, haben kaum zählbare Erfolge gebracht. Der gordische Knoten verlangt nach einer tatkräftigen Politik, nach einem Neuaufsatz von Gesetzen. Wir müssen uns in vielen Politikbereichen, auch als Fremdenverkehrsland ein neues Image geben und die alten Wege verlassen, wenn wir Zukunft haben wollen. Die Umweltkrise verlangt mutige Schritte, genau solche, wie sie jetzt in der Pandemievorsorge mit dem Mut zur Verzweiflung und mit guten Aussichten auf Erfolg gesetzt worden sind.

Mag. Dr. Winfried HERBST ist Vorstandsvorsitzender des Naturschutzbundes Salzburg
https://naturschutzbund.at/salzburg.html

Quelle: https://www.sn.at/panorama/oesterreich/alte-wege-endlich-verlassen-85856155

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