Der 7.10.2001 war ein Sonntag. An diesem Tag brach meine Welt zusammen. Die USA begannen ihr Bombardement auf Afghanistan und Osama Bin Laden erklärte den Heiligen Krieg. Das zog mir den Boden unter den Füßen weg. Ich konnte keine Nachrichten mehr hören, sehen, lesen, keine Neuigkeiten mehr verkraften, ohne sofort einer bedrohlichen Panikattacke zu unterliegen. Manchmal dachte ich während dieser Attacken, ich müsse tatsächlich sterben. Seither bin ich tausende dieser kleinen Tode gestorben, mal waren sie einfacher, mal schwerer zu ertragen. Inzwischen stehen mir Menschen zur Seite, die mich in diesem Leben festhalten, die mir treue, unnachgiebig liebende und mich verwurzelnde Freunde sind.
Von Angst beherrscht
Damals 2001 und auch noch einige Jahre später hatte ich nur Angst. Ich erstickte fast an dem Gedanken, dass ich Menschen potentiell verdächtigte. Menschen, die nicht denselben kulturellen Hintergrund hatten und nicht so aussahen wie ich unterstellte ich, ein Schläfer, ein Terrorist, ein übler Schurke zu sein. Ich hatte über Jahre damit zu tun (und bisher habe ich meine Erkrankung tatsächlich noch nie so gesehen), gegen dieses Menschenbild anzukämpfen; gegen diese Monster, die in meinem Kopf und meinem Herzen hausten. Bei jedem Anfall, den ich erlitt, kämpfte ich mit einem Selbsthass, derartig niederen Vorstellungen erlegen zu sein. Ich bat den fremden Menschen, der mir begegnet und unbekannt war, innerlich um Verzeihung. Ich war Gefangene meiner selbst. Ich, die Weltoffene, Kulturbegeisterte, wollte nicht die ängstlich Verurteilende sein, die ihre unaufgearbeiteten Ängste jemand anderem als Schuld in die Schuhe schob.
Langsam wandelte sich meine Erkrankung, ich entdeckte, was tatsächlich diese Angst in mir auslöste, ich sah, woran ich tatsächlich litt. Ab diesem Zeitpunkt war und ist es mein Leidensweg, der sich vom Sündenbockopfer getrennt hat.
Die Welt in ständigem Wandel des Krieges
Damals war ich beherrscht von der Vorstellung, wir würden einem Krieg zum Opfer fallen, der uns unausweichlich alle vernichten würde. Das traf nicht ein, obwohl die Welt damals halb so solidarisch zueinander stand wie heute.
Heute, 21 Jahre später steht die Welt da, wo sie eigentlich immer steht, nämlich immer irgendwo im Krieg, in einer humanitären Katastrophe, am Abgrund der Menschlichkeit. Mit dem Unterschied, dass das Szenario eines Krieges wie ein Schreckgespenst in Europa haust. Und all diese Jahre später, spüre ich innere Befremdlichkeit und eine Gelassenheit, die ich so von mir als Letztes erwartet hätte. Ich, die ich die Abgründe der Angst sehr gut kenne, die den Verlust der eigenen Selbstverständlichkeit vielfach zu betrauern hatte, reagiere unterkühlt und abweisend. Manchmal versucht die Angst freilich schon, sich meiner zu bemächtigen. Die Angst, dieses fiese Luder, das unbestrittene Herrscherin ist: in abermillionen Vorurteilen, geprägt durch Hörensagen und Erinnerung, in vielen Mausklicks und in vielen Federn der Journaille.
Es ist unbestritten, dass wir alle früher oder später sterben werden. Das ist das, worauf das biologische Leben abzielt. Zwischen Geburt und Leben steht unweigerlich der Tod. Das ist eine Tatsache, mit der wir uns gerade zu Ostern wunderbar auseinandersetzen können. Dass wir Angst davor haben, das Leben könnte frühzeitig zu Ende sein, sollte uns aber erst recht nicht daran hindern zu leben. Anstatt endlos nach der Antwort auf die Frage „Wie könnte ich zukünftig schneller als erwartet sterben?“ in der virtuellen Welt zu suchen, sollten wir real leben.
Die Vermessung der Welt via Küchendiagramm
Ebenso unbestritten wie die Sache mit dem Leben ist, dass das Leben an sich immer schwierig und herausfordernd ist – herausfordernd für uns, die wir im Jetzt und Hier leben, mit all den Problemen, vor die die Welt, ihre Herrschenden, das Leben an sich uns stellen.
Wenn ich eines aus dem ganzen Coronawahnsinn, in dem ich manchmal am liebsten durchgedreht wäre, gelernt habe, dann dass Durchdrehen keinen Sinn hat. Wenn ich gewusst hätte, was uns Anfang dieses Jahres erwartet, ich hätte Corona gelassener genommen.
Das Leid, das uns nun tagtäglich in Bild, Ton und Schrift begegnet, dass uns scheinbar härter zu treffen scheint, weil es auf unserem Kontinent passiert, dieses Leid ist unsagbar groß und darf nicht geschmälert werden. Die Menschen, die dieses Leid aushalten und tragen müssen, das wir immer nur ein klein wenig lindern können, diese Menschen leben in schweren Zeiten. Wir tun das nicht! Wir leben nicht in schweren Zeiten! Wir leben in schwierigen Zeiten, aber wir haben es nicht schwer! Wir sind nicht betroffen von Hunger, Bomben, Zerstörung, gewaltsamem Tod und Brutalität. Wir, die wir uns diese Bilder ins warme Wohnzimmer holen, und es ist mir unbegreiflich, warum wir das so exzessiv tun, dürfen nicht davon reden, wir lebten in schweren Zeiten! Wir können uns Betroffenheit als Lebensausdruck leisten. Würde diese Betroffenheit uns auch Demut lehren, so hätte sie wenigstens einen Sinn.
Die aus Betroffenheit und Hilflosigkeit in Endlosschleife gesetzten Zeichen, die ständig „das Gute“ kolportieren, sind luftleicht im Gegensatz zur stillen guten Tat, die den Menschen in Not sieht. Wenn die Betroffenheit zudem nur die Angst nährt, bald selber „dran“ zu sein, hat sie entschieden das Ziel verfehlt.
Solange wir es uns leisten können, weltpolitisches Expertentum im heimischen Küchendiagramm Schwarz-Weiß anschaulich als Wahrheitsdiktatur darzustellen, solange stimmt das Gleichgewicht zwischen Brot und Spielen. Solange bleiben wir Spielball des die Demokratie unterwandernden desinformierten unkritischen Geistes und Träger des scheinbar unbefleckt helfenden Hemdes, das uns näher ist als die Hose.
Die Dominanz des Westens
Lassen wir also die Hosen runter und zeigen der Welt, wie herrlich eurozentriert wir sein können: Habe ich seit 2015 härteste Kämpfe mit Menschen ausgefochten, die alle Flüchtlinge am liebsten im Mittelmeer ertränkt hätten, muss ich bass erstaunt feststellen, dass genau diese Menschen ihre Häuser und Wohnungen öffnen für Menschen, die ihnen ebenso fremd sind, wie die damaligen Flüchtenden. Der einzige Unterschied: der Pass. Ein Mensch ist ein Mensch, ist ein Mensch…woher er auch kommen mag. Mir graut vor dieser Welle der hassenden Liebe, die in vollster Betroffenheit sich erlaubt zu entscheiden, wer hilfsbedürftig sei und wer nicht. Es ist unmenschlich und eines fühlenden Menschen unwürdig, bei der Thematisierung „Frauen auf der Flucht“ einen dreckigen Lachsmiley zu hinterlassen, während nun, da es eine andere Ethnie betrifft, „alles Menschenmögliche getan werden“ muss. Ein Mensch ist ein Mensch, ist ein Mensch…Doch entschieden wird zwischen Schwarz und Weiß, zwischen Rasse und Religion, zwischen Gut und Böse, zwischen rein und befleckt…
Europa vergeht vor unseren Augen
ecce homo…verschwendete Mahnung…die Sünde der guten Tat…
Egal wie weit eine Atombombe reicht, der moralisch längere Hebel sitzt im Westen, hier stehen wir wieder und vermessen die Welt, vermessen den Menschen an Ethnie, Rasse, Religion, Geschlecht, Hautfarbe und lassen keine gute Tat ungesühnt. Davon, von unserer eigenen Überheblichkeit, davon sollte uns schlecht werden. Davor sollten wir uns fürchten! Davor, wie sehr wir Europa knebeln, sie beflecken und wieder und wieder unterwerfen. Europa will leben, genauso wie wir, sie ist gütiger als wir und wir haben sie nicht verdient!
Wäre die griechische Sagengestalt Europa keine fiktive Person, sondern ein lebendiges menschliches Wesen. Würde sie uns ihre Empfindungen, all die Zumutungen zurufen? “Ihr habt mich und Euch verraten?” Könnte sie empfinden, was würde sie heute tun und sagen?
Europa weint
Europa weint
Enthemmten Schmerz
Erwachsen aus Gewalt
Kämpferisch aufbegehrend
Reißt Europa
Die Mauer des tosenden Kriegsgewirrs ein
In deren Trümmern
Sie sich selbst neu gebiert
Unter Schicksalsgewalten
Vergangenheits- Gegenwarts- und Zukunftswehen
Von Schmerz und Hilflosigkeit
Noch einmal
Betäubt, entkörpert, entseelt
Europa
Noch einmal
Sich unterwerfend
Ihren geistigen, kriegerischen Peinigern
Deren Hände
Klebrig gekennzeichnet sind
Mit gewaltgetrocknetem Blut
Europa
Stöhnt, weint, schreit, erinnert
All die wunden Kinder
Aus sich heraus
Die sich ihr anvertrauten
Erschöpft legt Europa sie
An ihr Herz
“Seht. Es sind Menschen!“
Flüstert Europa
„Seht her! Um welchen Preis!
Seht! Ich habe Platz!“
Alle Bilder: Pixaby