21. November 2024
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Calisthenics – eine faszinierende Sportart

Patrick Pisch bei einem Mexican Handstand auf der Hungerburg
Lesedauer ca. 6 Minuten

Patrick Pisch (PP) stellt im Interview mit Ernst Pisch (EP) eine relativ neue Sportart vor.

EP: Patrick, du warst eine treibende Kraft bei der Gründung des ersten Tiroler Calisthenics-Vereins. Als ich das Wort „Calisthenics“ erstmals hörte, konnte ich mir gar nichts darunter vorstellen und musste mich erst informieren, was das denn überhaupt ist. Wikipedia beschreibt das so:
„Calisthenics (griechisch: καλός, kalos = „schön“, „gut“ und σθένος, sthenos = „Kraft“) ist ein international gebräuchlicher Kulturbegriff, der Eigengewichtsübungen integriert.“
Wer es noch nie gesehen hat, wird sich auch mit dieser Beschreibung noch nicht all zuviel vorstellen können. Wie beschreibst du diese Sportart, wenn du sie jemandem erklären willst?

Patrick: Straddle Bend Arm Planche

PP: Ja, du hast recht – wenn wir gefragt werden, welche Sportart wir betreiben und unsere Antwort lautet „Calisthenics“, dann erntet man zunächst einmal ahnungslose Blicke.
Unter Calisthenics versteht man das Training mit dem eigenen Körpergewicht. Balance, Kraftausdauer, Beweglichkeit, Ästhetik und Muskelkraft sind die Eigenschaften, welche bei dieser Sportart gefördert werden. Im Gegensatz zum klassischen Workout mit Gewichten, wird beim Training mit dem eigenen Körpergewicht das Zusammenspiel der Muskelgruppen verbessert. Besonders bei jungen Sportler/Innen erweist sich das Training mit dem Körpergewicht als sichere und verletzungsfreie Alternative zum Training mit Gewichten. Weiters ist man beim „Streetworkout“, wie diese Sportart ebenfalls genannt wird, nicht an einen festen Platz, wie z.B. einem Fitnessstudio, gebunden. Nach dem Motto „The world is your Gym“ kann man so gut wie überall ein Workout starten. Ein Ast kann als Klimmzugstange oder zwei Stühle als provisorischer Barren dienen. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt.
Bei der Vereinsgründung wählten wir aus gutem Grund den Namen „Gravity Breaker“, da wir bei dieser Sportart der Gravitation trotzen. Dank Körperbeherrschung, sowie Einsatz und Koordination verschiedenster Muskelgruppen, sind wir in der Lage zu „schweben“.

Patrick: Close Grip Human Flag

EP: Wie bist du zu dieser Sportart gekommen? Wer in Inzing aufwächst, kommt ja viel eher mit Sportarten wie Fußball, Schifahren, Tennis, Tischtennis, Radfahren, Ringen usw. in Berührung.

PP: Ich habe Calisthenics im Herbst 2016 über einen Kollegen kennengelernt. Damals war ich noch Leichtathlet und wir traten spaßeshalber in einem Wettkampf gegeneinander an. „Wer schafft mehr Klimmzüge?“ … und ich hatte verloren. Anschließend packte mich der Ehrgeiz und ich probierte einige Übungen aus, welche mir mein damaliger Gegner verriet oder auf Instagram zu finden waren. Schon nach relativ kurzer Zeit stellte ich Fortschritte fest und überholte bald den damaligen „Lehrmeister“. Nach nur 2 Monaten Training war ich in der Lage, eine „Human Flag“ zu halten. Der „Back Lever“ gelang mir schon beim zweiten Versuch. Ich schien Talent dafür zu haben und ab Mai 2017 wurde Calisthenics meine Hauptsportart.

Im Sommer desselben Jahres erfuhr ich von einem Street Workout Austria Treffen in Kärnten am Silbersee. Dort traf ich dann die Österreichische Calisthenics Community. Die Wiener und Kärntner waren damals schon um Einiges weiter. Dies inspirierte und motivierte mich, auch in Tirol eine Community aufzubauen. Außerdem geschah im Zuge dieses Treffens noch etwas völlig Unterwartetes: Ich qualifizierte mich für die Street Workout Power & Strength Weltmeisterschaft in Riga 
(https://www.meinbezirk.at/telfs/c-sport/inzinger-patrick-pisch-repraesentiert-oesterreich-bei-der-calisthenics-weltmeisterschaft-in-lettland_a2263240)

EP: Wie ging es dann weiter? Wie ist es dir gelungen, einen Verein für eine Sportart zu gründen, welche in Tirol so gut wie unbekannt war?

Es gibt in Innsbruck einige wenige Parks, wo diese Sportart ausgeübt werden kann. Ich ging hin und sprach möglichst viele Personen an, welche dort mit Begeisterung trainierten. So entstand eine zunächst kleine Trainingsgruppe und aus dieser Trainingsgruppe ein Team mit dem gemeinsamen Ziel, einen Verein zu gründen, um Calisthenics bekannter zu machen. Wir wollten möglichst vielen Personen Gelegenheit bieten, diese Sportart auszuprobieren.

EP: Ich habe erfahren, dass ihr zu dritt den Verein gegründet habt. Was mir auffiel und ganz besonders gefällt: In eurem Dreier-Team befand sich auch eine Frau. Es ist (leider) nicht selbstverständlich, dass bereits bei der Gründung eines Sportvereins beide Geschlechter vertreten sind.

Iris Weissenböck (Athletin aus Wien) beim Streetworkout Austria Treffen in Kärnten am Silbersee

PP: Calisthenics ist eine sehr vielseitige Sportart, die jedem etwas zu bieten hat. Es geht nicht alleine um Kraft. Körperkontrolle spielt eine sehr wichtige Rolle, damit Übungen mit einer schönen Technik ausgeführt werden können.
Das Schöne an dieser Sportart ist, dass hier ein Miteinander und kein Gegeneinander herrscht. Wir ergänzen uns, indem wir Tipps und Erfahrungen teilen und uns somit auch über jeden „fremden“ Fortschritt freuen können.
Bei unseren gemeinsamen Trainingsstunden im Verein zeigen wir jedem Mitglied Zusatzübungen, welche teilweise auch in der Physiotherapie angewendet werden, um ein besseres Körpergefühl zu bekommen.

EP: Apropos „Physiotherapie“. Du studierst Physiotherapie und hattest vorher auch eine Ausbildung zum „Diplom Professional Health & Fitness Personaltrainer“ erfolgreich absolviert. Inwiefern kommt dir das bei dieser Sportart zugute. Bzw. was mich eigentlich noch mehr interessiert: Kannst du die Erfahrungen, welche du im Zuge des Calisthenics-Trainings sammelst, auch für deine berufliche Ausbildung zum Physiotherapeuten nützen?

PP: Meine Personaltrainer Ausbildung hat mir leider nur wenig für meine Calisthenics Karriere gebracht. Wie ich zuvor bereits erwähnt hatte, habe ich anfangs einfach nur sehr viel ausprobiert und Erfahrungen gesammelt, was funktioniert und was nicht. Die große Belastung für die Gelenke vor allem bei den Stützübungen wie Planche und Handstand hatte ich unterschätzt. Dies wurde mir nach einem Jahr Calisthenics Training zum Verhängnis, da ich seitdem mit Handgelenksproblemen zu kämpfen habe. Da kam mir meine Physiotherapieausbildung aber dann sehr zugute. Ich lernte dort nicht nur die Anatomie und Physiologie, sondern auch die Entstehungsmechanismen der Pathologien. Wie ich am besten mit solchen Verletzungen umgehe bzw. diese von Anfang an vermeiden kann, lernte ich aber vor allem durch eigenständiges Recherchieren der neuesten Studien zu diesem Thema. Dieses evidenzbasierte Vorgehen ist auch Teil der Ausbildung und meiner Meinung nach auch essentiell um ein guter Physiotherapeut oder auch Trainer zu sein.

Zur Frage, ob ich meine Erfahrung im Calisthenics auch für meine berufliche Ausbildung als Physiotherapeut nutzen kann gebe ich ein ganz klares JA. Das Verständnis über meinen Körper, welches ich durch Calisthenics gewonnen habe, welche Bewegungen möglich sind, bringt mir eine beinahe grenzenlose Auswahl an Übungen, welche ich mit Patienten durchführen kann. Von Ansteuerungsübungen im Bett bis hin zu Maximalkraftübungen für Leistungssportler habe ich für jede Person die passende Intensität. Außerdem habe ich durch meine Trainertätigkeit auch schon viel Erfahrung beim Anleiten von Übungen.

Gruppenfoto – Wie viele Aufnahmen braucht es, bis alle gut drauf sind?

EP: Ihr zählt mittlerweile bereits 35 Vereinsmitglieder und nähert euch vermutlich schon zu Jahresbeginn 2023 der 40er-Marke. Ich finde das erstaunlich und sehr erfreulich, denn schließlich handelt es sich hier um eine Sportart, bei der Gesundheit und Wohlbefinden ganz weit oben steht, wenn ich mir das so anhöre. Mit der rasch wachsenden Mitgliederzahl dürften aber auch die Herausforderungen wachsen, welche es zu lösen gilt. Welche organisatorischen Hürden beschäftigen euch am meisten? Oder anders herum gefragt: Womit könnte euch die Politik am besten unterstützen?

PP: Meiner Meinung nach die größte Herausforderung ist es, mit den Gegebenheiten, die uns zur Verfügung stehen, ein passendes Training für jeden Einzelnen unserer Mitglieder zu finden. Unsere Mitglieder sind natürlich nicht alle auf demselben Level. Daher müssten wir unser Training in verschiedene Gruppen aufteilen. Da allerdings nur ein Reck, ein Barren und viele andere Geräte nur einmal vorhanden sind und wir unsere Trainingshalle nur einmal pro Woche betreten dürfen, ist uns das leider nur schwer möglich. Bisher kamen wir trotz der großen Anzahl an Teilnehmer im geführten Training noch gut damit zurecht, bei wachsender Mitgliederzahl müssen wir uns allerdings bald eine andere Halle suchen, die, wenn möglich, auch an Feiertagen und während der Sommerferien für uns geöffnet hat.
Die Politik könnte uns also insofern am besten helfen, indem sie uns auch durch finanzielle Unterstützung eine geeignete Halle zur Verfügung stellen könnte, damit wir auch weiterhin unseren Mitgliedsbeitrag niedrig halten können (zurzeit 50 € pro Jahr).

EP: Deine Teilnahme an der WM in Riga war keine Eintagsfliege – eure Vereinsmitglieder waren mittlerweile nicht nur bei der Österreichischen Staatsmeisterschaft, sondern auch bei internationalen Bewerben erfolgreich.

PP: Ja, richtig. Das freut mich ganz besonders, weil es uns zeigt, dass unsere Trainingsmethoden nicht nur persönliche Fortschritte ermöglichen, sondern unsere fleißigsten Mitglieder sogar durchaus mit internationalem Niveau mithalten können. Bei der Österreichischen Meisterschaft befanden sich drei Tiroler „Gravity Breaker“ unter den Top 5 Platzierungen. Das ist eine ganz besonders tolle Leistung, wenn man bedenkt, wie vergleichsweise jung und klein unsere Community hier in Tirol erst ist. Unser Vereinsmitglied Stefan Mair qualifizierte sich 2018 sogar für die Weltmeisterschaft in Riga und 2019 noch einmal für die WM in Moskau. Dieses Jahr hatten wir sogar zwei Mitglieder, die es geschafft haben, sich für die Weltmeisterschaft in Riga zu qualifizieren. Darunter auch eine Frau, was uns besonders stolz macht.

EP: Danke Patrick, dass du uns einen kurzen Einblick in diese neue, sehr interessante Sportart geben konntest. Ich würde mich sehr freuen, wenn du uns in einem weiteren Beitrag den einen oder anderen Trainingstipp verraten könntest und ein paar der Übungen vorstellst, welche euch sprichwörtlich schweben lassen.

Front Lever: Patrick hält sich an den Beinen von Sarah Meierfest.

Alle Fotos: Ernst Pisch

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Ernst Pisch

Ernst fotografiert in seiner Freizeit leidenschaftlich gerne und interessiert sich für die Technik, welche dahintersteckt. Während der oft längeren beruflichen Fahrten von und zu den Kunden denkt er unter anderem auch gerne darüber nach, warum die Welt genau so ist, wie sie ist. Dabei entstehen Fragen und manchmal auch neue Interessen, Ideen und Erkenntnisse, welche er gerne mit anderen teilt.

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