27. April 2024
Newsletter   

Die Sehnsucht nach dem guten Ton

Musik liegt in der Luft…(© Pixabay)
Lesedauer ca. 4 Minuten

Menschen sind wie Musikinstrumente und Resonanzkörper. Wir reagieren auf Schwingungen und Töne; hörten wir doch schon vor der Geburt den beruhigenden Ton des Herzens unserer Mutter. Die Sehnsucht nach einem guten Ton begleitet uns Menschen ein Leben lang, egal ob wir musikalisch sind oder vermeintlich nicht. Victor Hugo umschrieb es so: Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich war. Musik schafft Gemeinschaft. Selbst als Zuhörende sind wir Teil einer Konzertgemeinschaft.  Große Leiderfahrung geht oft mit Rückzug einher. Manchmal vermag es Musik, innere Räume zu öffnen, den eigenen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Melodien erlauben alle Gefühle, auch den Schrei und das Jammern. Meine kürzlich verstorbene Mutter erblindete in den letzten Tagen, Worte erreichten sie nicht mehr – behutsame Berührungen und vor allem Musik schon. Ich sang ihr stundenlang ihre Lieblingslieder vor. Ganz am Schluss das Lied „Von guten Mächten wunderbar geborgen“. Bei der letzten Strophe „Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet, so lass uns hören jenen vollen Klang der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet; all deiner Kinder Lobgesang…“ tat sie erlösend ihren letzten Atemzug. Der unbeschreibliche Komponist des Lebens und der Liebe hat ihr wohl mit einem Kuss einen neuen Ton eingehaucht.

Endless music

Zu meinem 40. Geburtstag habe ich mir als persönliches Geschenk eine Ausbildung zur Lebens-, Sterbe- und Trauerbegleitung spendiert. In der Mitte des Lebens eine besondere Zäsur, um sich dem Unausweichlichen und zugleich einer unverzichtbaren Lebens-Kultur zu stellen. Berührende Begegnungen, wertvolle Impulse und ein immer stärker sich formierender innerer Auftrag, sich um einen würdevollen letzten Lebensabschnitt zu bemühen – für Angehörige, Zugehörige, die Gesellschaft, Menschen nah und fern. Der spätere Einstieg in die Caritas und in den Vorstand der Hospizgemeinschaft schufen mir die Plattformen dafür, dieses Anliegen voranzutreiben. Zurück zum Ausbildungsjahr. Unter anderem bekamen wir als Teilnehmende den Auftrag, sich einem Thema besonders zu widmen. Ich entschied mich für die Musik als „Hilfsmittel“ in der Sterbebegleitung. Wohl auch weil mir die Musik in einer dramatischen Krisenzeit meiner Jugend Hilfe und Anker, ja Heilung beschert hatte. Je mehr ich mich in das Thema vertiefte, eröffneten sich mir bis dahin teils unbekannte Welten. Nahezu alle Kulturen der Welt setzen die Musik bei Hochzeiten der Freude und Lebenslust, sowie an den Wendepunkten, Tiefpunkten des Lebens als „Begleiterin“ ein – im Reigen vielfältiger Instrumente, im gemeinsamen Gesang und im Tanz. Schon in den frühen Hochkulturen finden wir entsprechende Aufzeichnungen. Unterschiedlichste Bestattungsriten greifen auf die Unterstützung der Musik zurück. Von den Klageliedern, formellen Tänzen bis zum Requiem und österlichen Halleluja. Themen, die sich mit dem Tod und der Sehnsucht nach einem Wiedersehen und himmlischen Aufgehobensein befassen, füllten oft wochenlang die Charts der Popmusik – man denke nur an Eric Claptons „Tears in heaven“ oder die Filmmusik zur ‚Titanic‘: „My heart will go on“. Musik berührt nicht nur die Gefühlswelt; sie löst im Organismus heilsame biochemische Prozesse aus, die sowohl beruhigende wie ekstatische Reaktionen auslösen können. Bei meinen Recherchen bin ich auf eine Notiz in einer sehr alten Abhandlung über Krankenpflege gestoßen: In mittelalterlichen Krankensälen (das Einzelzimmer ist nicht nur ein Fortschritt) stand meist eine Orgel, auf der für die Schwerstkranken und Sterbendden gespielt wurde. „Nicht nur zur Erbauung der Seelen, sondern zur Linderung der Schmerzen“, heißt es da.
Viele von uns kennen das. Musik löst einiges in uns aus. Nicht nur das Gemüt kommt in Wallung oder erfährt Entspannung, sondern der ganze Körper. Wir werden quasi zum zusätzlichen Instrument und Resonanzkörper, der in Schwingung gerät und Seiten/Saiten in uns erklingen lässt, die vertraut, überraschend, auf- und anregend, irritierend und beruhigend, zerstörerisch und  heilsam sein können.

Es ist in jedem Fall eine innere Reise wert, die persönlichen Vorlieben und (Ge)Bräuche rund um die Musik zu erkunden. In meine Arbeit rund um die Musik habe ich eine Umfrage eingebaut. Meine Frage an unterschiedlichste Teilnehmer:innen war, welche Musik sie sich am Ende ihres Lebens wünschen würden. Die Ergebnisse waren vielfältig wie die Menschen selbst. Eine große Gemeinsamkeit durfte ich bei den meisten Befragten entdecken. Der Rhythmus, das Taktmaß der meisten gewünschten Musiktitel war nahezu gleich – und – war der des pochenden Herzens. Erstaunlich und faszinierend: Am Ende des Lebens kehren wir an die erste Musikerfahrung zurück. Als Noch-Nicht-Geborene hörten wir die beruhigende Herzschlagmelodie der Mutter. Am Ende geht unsere Sehnsucht wieder in diese Richtung. Ich durfte bei meiner Befragung auch die Wiener Philharmoniker um ihren Beitrag bitten. Ihre Antwort, abgefragt in einer Probenpause, war überraschend. Ihr Musik-Wunsch am Ende ihres Lebens: Die totale Stille. Nicht weil sie der Musik überdrüssig wären. Nein, weil sie gespannt warten möchten, welcher Ton zu aller erst im Jenseits angeschlagen werden würde.
Und somit geht die Frage an Dich, lieber Leserin und Leser: Wie hast du es mit der Musik? Welche Songs, Instrumentalstücke sind deine Begleiter:innen durch alle Wellentäler des Lebens – in Dur und Moll – in Freude und Traurigkeit? Welche Musik soll am Ende deines Lebens erklingen? Wissen deine Angehörigen und Zuhörigen um deine (musikalischen) Vorlieben?

Nachsätze: Ich bin zutiefst überzeugt, dass alle Menschen musikalisch sind. Ungeschickten Pädagoginnen und Pädagogen und Eltern sei das ins Stammbuch geschrieben. Jede und jeder von uns ist mit einer unvergleichlichen und unverzichtbaren Melodie auf die Lebensreise geschickt worden. Es ist Auftrag an eine humane Gesellschaft, diese zum Erklingen zu bringen. Im Miteinander kann eine neue Sinfonie, ein Musical der Solidarität und Gemeinschaft erklingen. Es ist niemals zu spät, ein Instrument zu lernen oder sich dem Gesang anzuvertrauen. Manches mag schräg erklingen. Wenn wir insgesamt die Sehnsucht nach dem guten Ton (auch im Sprechen) niemals aufgeben, bringen wir eine neue, notwendige Melodie in eine Krach- und Streitgesellschaft. Ich bin dankbar in einem Dorf zu wohnen, wo viel und vielfältig musiziert und gesungen wird. Der vorläufige Schlussakkord gehört einem meiner Lieblingslieder von Reinhard Mey: „Gib mir Musik!“

Alle Fotos (außer Titelbild): Georg Schärmer privat

Diesen Artikel teilen:

Georg Schärmer

Geboren am 14. März 1956. Jahrelanger Leiter sozialer Einrichtungen und Bildungsstätten; zuletzt Direktor Caritas Tirol und Vizepräsident Caritas Österreich. Vorstandsmitglied von Pflegeeinrichtungen im In- und Ausland. Autor mehrerer Bücher, Publikationen und Herausgeber von Kulturformaten. Besondere Interessen: Musik, Literatur, Architektur und Sozialraumentwicklung. „Ziel des Schreiben ist es, andere sehen zu machen“ (Joseph Conrad)

Alle Beiträge ansehen von Georg Schärmer →

2 Gedanken zu “Die Sehnsucht nach dem guten Ton

  1. Lieber Georg,
    vielen Dank für diesen wunderbaren Text, der vieles von meinem Musikempfinden anspricht.
    So bleibt mir als schönstes Geschenk, das mir bis heute in der Erinnerung Freude bereitet, zu meinem 50er, dass mein damaliger Schlagzeuglehrer mit einer Sängerin und einem Pianisten ein Jazztrio zusammengestellt hatte, die für mich spielten – großartig!
    Und die Freude, für Radio Enterbach mit ganz unterschiedlichen Menschen je 1 Sendungzu machen, bei der man ca. 8 Stücke aussuchen darf, die man auf die einsame Insel unbedingt mitnehmen würde wollen.
    Hier hänge ich dir einen Link an von einer Aufnahme, bei der mehrere von mir sehr geschätzte Musiker und 1 Sängerin zusammenkommen, die alle bis heute nach dem guten Ton suchen – mit erstaunlichen Ergebnissen!
    https://www.youtube.com/watch?v=C7krhl3O7es

  2. Danke, Georg,
    für diesen wundervollen Beitrag, den ich jetzt schon mehrmals durchlesen musste, weil er so vieles in mir zum Klingen bringt. Ja, in jedem Mensch steckt Musikalität, man muss sich nur Mühe geben und das herauskitzeln, und ja, ich kann nur empfehlen, auch im Erwachsenen-Alter noch ein neues Instrument zu erlernen. Mir hat das viele neue Freundschaften ermöglicht, und ich genieße das gemeinsame Musizieren über alles!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert