27. April 2024
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Sina Kiyani: Paradiesstraße

Lesedauer ca. 3 Minuten

In ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen nennt Hilde Domin drei Arten von Mut, die Schreibende brauchen: den Mut zum Sagen, zur eigenen Identität; den Mut zum Benennen, wahrhafter Zeuge einer Erfahrung zu sein; und den Mut, „an die Anrufbarkeit der anderen zu glauben“. Sina Kiyani hat für seinen Roman alle drei Arten von Mut aufgebracht und es ist ihm zu wünschen, dass sich viele Leser:innen davon anrufen lassen.

In der titelgebenden Paradiesstraße in Shiraz steht eine Art persischer Würstlstand, in dem Herr Hamid nicht nur Sandwiches mit gebratenen Würsten, Pepsi und Tee anbietet, sondern auch einen schier unerschöpflichen Fundus an Sprüchen und Ratschlägen. Der 17jährige Ramin konsumiert all das, auch wenn er sich in typischer Teenagermanier über manche Sprüche lustig macht. Es ist 1980, die Islamische Revolution ist gerade erst ein Jahr alt, aber sie verändert den iranischen Alltag rasant und nicht zum Guten. Für Ramin in verschärfter Form, denn er ist homosexuell und das ist bei Todesstrafe verboten. Was ihn nicht daran hindert, sich in einen anderen Schüler zu verlieben, der diese Liebe auch erwidert. Dem Buch vorangestellt ist eine Meldung von zwei Burschen, die 2005 im Iran wegen homosexueller Handlungen öffentlich erhängt wurden. Dieses Bewusstsein der Gefahr durchzieht den gesamten Roman, auch wenn zum Schluss offen bleibt, wie es mit Ramin und Aschkan weitergehen wird.

Kiyani, 1966 im Iran geboren, beweist den Mut, als homosexueller Ich-Erzähler zu schreiben. Und den Mut, die vielen Auswirkungen des neuen Regimes zu bezeugen. Dabei vergisst er nie, wie jung seine Hauptfigur ist. Das erste richtige Verliebtsein wird schwärmerisch zelebriert, wie es wohl typisch ist für dieses Alter, unabhängig von sexuellen Präferenzen. Und dieser Teenager tut sich in der Schule leicht und nimmt sie deshalb auf die leichte Schulter, ist genervt von seinem kleinen Bruder und findet es ätzend, von seiner Cousine angeschwärmt zu werden. Wie ihm überhaupt die Zusammenkünfte seiner Mutter mit ihren Freundinnen zuhause schnell zuviel werden, auch wenn er nebenbei viele kleine Grausamkeiten des neuen Regimes mitbekommt, z.B. das Verbot von Haustieren und das Gebot für Frauen, außer Haus den Tschador zu tragen.

Für Ramin ist die wichtigste Überlegung,  wo kann man sich treffen, ohne die Wächter auf den Plan zu rufen? Anfangs in der Bibliothek, im Kino, wobei ich erstaunt war, wieviele „westliche“ Filme offenbar gezeigt werden. Noch, denn schon im Jahr darauf wird die Auswahl stark eingeschränkt. Doch Ramin und Aschkan wollen mehr als ein paar gestohlene Küsse. Herrn Hamids Zimmer in der Altstadt ist nur bedingt geeignet, eine Frau im Hof erweist sich als das, was man im Nazideutschland einen „Blockwart“ genannt hätte. Wie überhaupt die ständig erweiterten Verbote erschreckend stark den Einschränkungen für Juden unter den Nazis ähneln, nur dass hier die gesamte Bevölkerung gemaßregelt wird und die weibliche ganz besonders.

An die Anrufbarkeit der Lesenden glaubend, bietet Kiyani bei allen Grauslichkeiten dieser Geschichte einen unterhaltsamen Roman. Er lässt reichlich Raum dafür, den Teenager Ramin als Teenager vorzuführen, mit seinen komischen Unsicherheiten, Widersprüchen, Vorlieben und Begehrlichkeiten. Und mit seiner kreativen Seite: Ramin verdient sich etwas Geld mit dem Basteln von Puppen sowie mit kalligraphisch gestalteten Karten und Tafeln. Diese verkauft er einem Mann mit einem kleinen Geschäft im Einkaufszentrum. Schon im zweiten Jahr der Revolution wird dieser Mann wegen seiner Religion – er ist Bahai – verfolgt wie in der Nazizeit die Juden. Kiyanis Roman zeichnet fast wie nebenbei die Entwicklung eines Terrorregimes nach. Vorher unbedeutende Menschen erhalten plötzlich Macht und missbrauchen sie, Angst und Gerüchte verbreiten sich, Leute arrangieren sich auf unterschiedliche Weise mit diesem System: als Handlanger, Geschäftemacher, durch Rückzug ins Private, oder sie fliehen ins Ausland.

Listig setzt Kiyani eine täuschend einfache Sprache ein. Ramin widerspricht sich oft und rasch, aber er ist auch ein guter Beobachter und so lässt der Autor eine Geschichte für alle Sinne entstehen, mit Bildern, Liedern, Gerüchen, Geschmäckern, körperlichen Empfindungen. Obwohl Kiyani auf Deutsch schreibt, erinnert diese sinnliche Erzählweise an arabische und persische Literatur, soweit man sie im Westen kennt.

Kiyani versteht es, in vielen kleinen und größeren Ungerechtigkeiten das Gefühl der Bedrohung im Laufe des Romans immer mehr zu steigern, lässt jedoch den Ausgang offen. Ramin und Aschkan sind mit der Schule so gut wie fertig, aber niemand weiß, wie es weitergehen soll. Werden sie öffentlich hingerichtet werden wie die Burschen in der dem Roman vorangestellten Notiz? Oder gelingt ihnen die Flucht? Wird es uns Kiyani im nächsten Buch verraten?

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Brigitte Scott

Brigitte Scott lebt seit 20 Jahren in Inzing und ist hier im Chor Inigazingo, im Kulturausschuss als Vertreterin der Liste JuF und im Kulturverein aktiv. Bis zum Ende der gedruckten Dorfzeitung war sie viele Jahre deren (Mit)herausgeberin und vor allem an Kulturberichterstattung interessiert. Brigitte ist ursprünglich aus Salzburg und lebte 16 Jahre in England. Ihrem Beruf als Übersetzerin und Lektorin geht sie in reduziertem Umfang auch jetzt in der Pension noch nach. 2009 engagierte sie sich im Projekt Radio Enterbach und davor im Literaturprojekt Andern(w)orts, beide vom Kulturverein. Sie liebt Musik, als Chorsängerin und als rege Besucherin von Konzerten. Sie ist Mitglied des English Reading Circle, der sich jedes Monat trifft, um ein bestimmtes Buch zu besprechen, natürlich auf Englisch. Sie gartelt mit Freude, aber hauptsächlich nach der Methode "Versuch und Irrtum". Trotzdem findet sie immer wieder genug zu ernten, um ihrer Kochleidenschaft zu frönen. Saisonale und indische Küche, die sie in England erlernt hat, liebt sie besonders - und ihre Gäste ebenfalls.

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