27. April 2024
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Mutige Sachlichkeit

Lesedauer ca. 5 Minuten

Wenn ich mich als Kind abends mit der Taschenlampe unter meiner Bettdecke verkroch um noch zu lesen, fühlte ich mich geborgen. Bis spät in die Nacht las ich meistens, verschlang alle mir zur Verfügung stehende Kinderliteratur und erlas mir eine Welt des Schutzes, der Ruhe und der inneren Resilienz.

In meiner Betthöhle wurde es nie zu eng für all die wunderbaren Figuren, die mir die gelesenen Worte ins Herz malten: Ich lag mit dem faulen Wanja auf dem Backofen, lief mit Pippi Langstrumpf im Rinnstein, baute ein Floß mit Tom Sawyer und Huckleberry Finn, rief mit Ronja Räubertochter die Freiheit herbei, weinte mit Krümel Löwenherz um den tragischen Verlust seines Bruders, widersetzte mich mit Momo den grauen Herren, brachte mit Nikita dem Spatzen das Fliegen bei, besiegte mit Peter den Wolf und schnitzte mit Michel aus Lönneberga Männchen…ich erlas mir wunderbare Welten von Astrid Lindgren über Otfried Preußler, Enid Blyton und Jack London bis hin zu Robert Louis Stevenson.

Aber kein Autor tröstete mich so sehr wie Erich Kästner. Jedes seiner Bücher wiegte mich sanft, keiner nahm mich so sehr in den Arm, ohne dass ich zuvor etwas leisten musste, ich verstand seine Worte – sie tropften mir tief ins Herz – und noch wichtiger, seine Worte verstanden mich, nahmen mich ernst, egal mit welchem Kummer oder welcher Freude ich mein Herz seinen Worten öffnete.

Ich wunderte mich zuweilen, wie er es schaffte, meine Gefühle zu lesen: “Wie kann ein Erwachsener seine Jugend nur so vollkommen vergessen, dass er eines Tages überhaupt nicht mehr weiß, wie traurig und unglücklich Kinder bisweilen sein können. Es ist nämlich gleichgültig, ob man wegen einer zerbrochenen Puppe weint oder weil man, später einmal, einen Freund verliert. Es kommt im Leben nie darauf an, worüber man trauert, sondern nur darauf, wie sehr man trauert. Kindertränen sind, bei Gott, nicht kleiner und wiegen oft genug schwerer als die Tränen der Großen. Keine Mißverständnisse, Herrschaften! Wir wollen uns nicht unnötig weich machen. Ich meine nur, dass man ehrlich sein soll, auch wenn’s weh tut. Ehrlich bis auf die Knochen.”[1]

Und manchmal da kommen sie wieder, die Kindertränen, und holen mich ein – die ungezählten eigenen oder die meiner Kinder. Da steht man dann bedröppelt rum und weiß nichts anzufangen mit dem großen Kummer, der unangekündigt mitten im Raum steht. Dann braucht es einen Freund von dem man weiß, der geht den Weg mit mir! Und dann braucht es die Ehrlichkeit, von der Kästner schreibt.

Bild: Georg Kugler

Diese Klarheit, benennen und reflektieren zu können, was mich bewegt und warum, das brachten mir Kästners Romanfiguren bei; und auch wenn’s weh tut, wir müssen uns dem stellen, dem was hinter uns und dem was vor uns liegt – bis auf die Knochen ehrlich. Das ist gar nicht so einfach, denn hierfür muss man mutig sein.

Mein kleiner Sohn hat in einer Unterrichtsstunde gelernt, dass Mutproben, die einen in richtige, unnötige Gefahr bringen, nicht mutig sind. “Mutig ist es Nein! zu sagen!” präsentiert mir der Kleine zuhause stolz und beeindruckt. Und ich denk mir: Diese jungen engagierten Lehrer, die nicht lockerlassen, zuhören, hinsehen und handeln, wie dankbar wir dafür sein müssen!”
Im fliegenden Klassenzimmer von Erich Kästner gibt es diesen gerechten, gutmütigen, pädagogischen Könner Dr. Böck. Daran erinnern sie mich, diese großartigen jungen Lehrer, die allen Widerständen zum Trotz gerade heutzutage ihren Beruf mit nachhaltig sturem Engagement leben und versuchen, das Miteinander im Gegeneinander zu vereinbaren. Gesamtgesellschaftlich gelingt meist nicht, was bei ihnen scheinbar leicht und selbstverständlich, wenn auch manchmal mühsam, gedeiht.

Nachhaltig stures Engagement zu leben und Mut zu haben, ist nicht selbstverständlich. Aber diese Werte werden immer unabdinglicher – für kleine Mädchen, für junge und erwachsene Frauen; für kleine Jungs, für junge und erwachsene Männer. Wir müssen das wieder und immer wieder von vorn lernen, damit es immer noch eindrücklicher wird. Warum? Weil diese Welt im Aufruhr ist. Ein Aufruhr, den wir jeden Tag spüren, ein Aufruhr währenddem wir manchmal feststellen: “Ich bin eigentlich total erschöpft, ich bin überfordert, mutlos und möchte aufgeben. Aber die Kinder möchten endlich ihr Mittagessen – gut! Mach ich eben weiter.”

Es fällt schwer weiterzumachen, der normale Alltag ist schon herausfordernd aber mit jedem neuen Backstage-Event aus der aufrührerischen Welt wird der Frustrationsgeier immer größer, hockt schon morgens auf der Schlummertaste. Er blinzelt nicht mal und glotzt dich unbarmherzig aus dem Bett und will dich hineinstarren ins steinharte Kissen der Hilflosigkeit.
Wie oft hab ich’s schon erlebt, bleischwer drückt der Weltenaufruhr, dem selbst ein “Was soll’s!?” nicht mehr Herr wird. Welche Strategie also anwenden? Es hilft nichts. Seien wir ehrlich – wir trauern. Wir trauern um eine Welt, die es so nicht mehr geben wird. “Der Trauer Raum geben” ist ein sehr bildhaftes Schlagwort aus der Trauerbegleitung: Es ist tatsächlich so, wie es die Trauerbegleiterin und Buchautorin Chris Paul treffend formuliert: „Trauern ist nicht das Problem, trauern ist die Lösung“.

Wir sollten also erkennen und akzeptieren, dass wir trauern. Dann müssen wir gehen, jeden mühsamen einzelnen Schritt und wir müssen gestalten – diesen Alltag auf dem die Angst hockt. Es ist dringend notwendig, dass wir lernen, gerecht und mutig zu sein.

Bild: Angela Pargger

Denn aufzustehen und Nein zu sagen ist das Eine – das Nein mit Sachlichkeit und Argumenten zu füllen, das Andere: Ich schleudere, Du schleuderst, wir schleudern, als wahre Schleuderwaffe der Provokation im Drillmodus der Gefühle. Damit schleudert man dann dem Gegenüber einfach mal ein hasserfülltes Nein entgegen – einfach so als simple Provokation, die Reaktion des Gegenübers bereits einberechnet. Wumms, zack, das saß. Man ist bestätigt und jeder hockt in einem anderen Gefühlstopf, in dem geduselt wird. Das ist so simpel, wie populistisch und erfordert keinen Mut.

Wenn das Nein ehrlich mutig gemeint ist, untermauern Argumente das Nein. Es geht nicht einfach nur ums Nein, sondern um die Sache. Es ist an der Zeit, Diskurs neu zu denken, indem wir verstehen lernen, warum was passiert und wie sehr wir daran beteiligt sind. Darin besteht sie größte Herausforderung: aus unserem Trauermodus heraus, kein demokratisch-antidemokratisches Anprangern und Gefühlschaulaufen mehr zu veranstalten. Wir befinden uns nicht in der unmittelbaren Gefahr, Demokratie zu verteidigen, wo wollen wir denn, wenn es soweit käme noch eine Steigerungsstufe hernehmen? Wir müssen und dürfen für die Demokratie einstehen!

Wir brauchen keine Feinde, wir brauchen Gegner, die uns herausfordern und benötigen Verbündete. Ich frage mich, wie lang unsere Gesellschaft die keinen Widerspruch duldenden, geradezu auf Feindschaft ausgerichteten Wortzündeleien am Pulverfass noch aushält. Ehrlich bis auf die Knochen zu sein, bedeutet in diesem Fall, sich immer folgende Fragen zu stellen: Ist es die Trauer, die uns besetzt und laut herausschreit, wie sehr uns die Angst umtreibt? Ist es blanker Hohn, der den Narren in uns verrücktspielen und uns provokant zynisch werden lässt? Oder: Ist es Mut, der als Grundstein für Argumentation und die dringend notwendigen Debatten unabdingbar ist?

Darin liegt eines der größten Geheimnisse: der Schwermut und Trauer nicht nur an der Schulter eines Freundes Ausdruck zu verleihen, sondern diesen Freund auch spüren zu lassen, Du machst mich zuversichtlich, denn in all dem Schweren kann und darf trotzdem Leichtigkeit, und Fröhlichkeit liegen.

Bild: Christian Niederwolfsgruber

Unter den beschriebenen Umständen, ist unser bester Freund die Demokratie, die momentan wieder in Kinderschuhen zu stecken scheint! Darin liegt auch eine Chance: Die Kindheit ist eine Zeit, in der wir lernen sollten, was es bedeutet, zu lachen, zu spielen, uns auseinander zu setzen und glücklich zu sein. In diesem Fall sollten wir einfach aus einem ungebrochenen demokratischen Willen heraus die Welt erkunden. Und selbst wenn wir diesen Geist hauptsächlich aus Büchern kennen sollten, es ist nie zu spät, den Mut zur Freude, zur Debatte zu entdecken, der Leichtigkeit eine Spur zu geben, ohne naiv zu sein, sondern ganz klar. Muten wir uns zu, mit Unsicherheit und Traurigkeit umzugehen – mutig und ehrlich bis auf die Knochen; das Leben hält auch in schwierigen Zeiten Freude, Glück und Erfüllung bereit, die wir vielleicht gerade in unserem demokratischen Entdeckergeist finden.


[1] Aus Erich Kästner: “Das fliegende Klassenzimmer”

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Angela Pargger

Angela erachtet Worte als das wichtigste Instrument menschlicher Kommunikation. Worte verbinden oder können hart trennen. Gefühle und Beobachtetes in Worte zu fassen, die zueinander passen und miteinander harmonieren, begeistert Angela seit Jahren. Schreiben ist eine wunderbare Möglichkeit, Erlebtes mit anderen Menschen zu teilen, Erfahrungen zu verarbeiten, sich zu positionieren, zu wehren und Dinge auf den Punkt zu bringen.

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