Arno GEIGER: Unter der Drachenwand
2018, Hanser Verlag,
ISBN 978-3-446-25812-9
Lange vor dem heurigen 75-jährigen Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs verfasste Arno Geiger einen Roman über das letzte Kriegsjahr, weit ab von Ost- oder Westfront und auch weitab von zerbombten Städten, im verschlafenen Mondsee in traumhaft schöner Landschaft.
Doch auch hier ist der Krieg allgegenwärtig, nur halt unspektakulärer: Kinder wurden aus Wien aufs Land verschickt und werden ganz im Geist der Nazis im Lager Schwarzindien unter der Drachenwand geschult und betreut. Inwieweit die Lehrerin an die Nazi-Ideologie glaubt, bleibt erst unklar, später versteckt sie kurz einen Verfolgten.
Veit Kolbe, ein junger Soldat, kommt, erheblich verwundet, nach Mondsee zur Erholung. Er wird bei einer missmutigen und bösartigen Frau einquartiert, wo bereits eine Deutsche, deren Mann eingerückt ist, mit ihrem Neugeborenen wohnt.
Ein junger Bursche in Wien hat eine Liebesbeziehung zu einem der landverschickten Mädchen angefangen, die von Denunzianten, der Lagerleitung und den Eltern des Mädchens unterbunden wird.
Eine jüdische Familie verschickt einen Sohn nach England, alle anderen schlagen sich in Wien und Budapest immer schlechter durch, bis zur völligen Auslöschung.
Geiger erzählt spannend von der Verrohung durch Propaganda und immer größeren Mangel im fünften Kriegsjahr. Für die jungen Hauptfiguren vergeht das Leben schnell und der Krieg langsam. Niemand weiß, wie lange es noch dauert, aber alle ahnen, wünschen, fürchten, dass er bald vorbei sein wird. Die einen halten am Siegeswahn fest, allein schon, damit sie sich nicht eingestehen müssen, einer fatalen Ideologie aufgesessen zu sein. Die anderen verharren mühsam in einer Warteschleife und fühlen sich um ihr Leben betrogen. Manchen begeisterten Nazis kommen langsam Zweifel, viele Junge werden zu sinnlosen Aktionen eingezogen und können sich nicht wehren, zahllose Flüchtlinge kommen dazu, die Lage wird immer verzweifelter.
Nur ganz wenig Gutes blitzt gelegentlich auf: Musik, Liebe, guter Umgang mit der Natur.
Da wir beim Lesen wissen, wie lange der Krieg wirklich gedauert hat, fürchten wir für die Figuren des Romans, dass sie den Mai 1945 nicht erleben werden. Nicht allen gelingt das.
Arno Geiger ist ein außergewöhnlicher Roman gelungen über das Durchwurschteln der vielen unbedeutenden Menschen im Krieg. Und durch die vielen eingefügten Briefe bringt er ganz unterschiedliche, sehr persönliche Perspektiven herein und verleiht jeder Figur ihren ganz eigenen, stimmigen Ton.
Weitere Buchbesprechungen sind auch auf der Seite der Bücherei Inzing zu lesen:
http://www.liest.at/paulus-hochgatterer-der-tag-an-dem-mein-grossvater-ein-held-war/
Die Kenntnisse über die Geschichte des dritten Reiches und deren Hintergründe und Entwicklungen werden oft unterschätzt. Gerade jetzt führt uns die Rassismus- Debatte sehr deutlich vor Augen, wie sich derartiges Gedankengut über Jahrzehnte und Jahrhunderte selbst “optimiert”, um sich dann angepasst auch in unserer Zeit niederzulassen. Als Ursache werden unter Anderem Flüchtlingskrisen oder Kriminalitätsstatistiken genannt, die perfiderweise aber nur ein “Auslöser” sein können, um bereits manifestierten Rassismus zu rechtfertigen. Es ist drin in uns, in jedem.