21. November 2024
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Buchbesprechungen

Lesedauer ca. 4 Minuten

Heute empfehle ich zwei Neuerscheinungen, eine aus der Nähe und eine von ganz weit weg.

Christoph W. Bauer: Niemandskinder

Ein sehr persönliches Buch ist der neue Roman von C. W. Bauer geworden. Zwar ist die Hauptfigur Broeger ein Historiker mittleren Alters, der – im Gegensatz zu Christoph W. Bauer – in seiner Jugend als Lyriker gescheitert ist. Einiges über den jugendlichen Ausbruch des Erzählers aus dem heimatlichen Dorf ins ferne Paris und die Erkenntnis, dass Fluchtversuche scheitern müssen, weil man seine frühen Erlebnisse überall hin mitnimmt, dürften dem Autor C. W. Bauer allerdings vertraut sein.

Doch geht es in dem atmosphärisch dichten, kurzen Text nicht vorrangig um den Ich-Erzähler, sondern um das (nicht) Dazugehören. Bei Recherchen über die Nachkriegszeit stößt der Historiker auf die Zeitungsnotiz zu einer Vermissten, Tochter einer Tirolerin und eines französischen Soldaten. Ein Besatzungskind, wie es wohl so einige gibt, vielleicht auch in Inzing. In Tirol war damals unter den französischen Truppen eine marokkanische Einheit stationiert und in dem Bild der Vermissten meint der Historiker seine Geliebte Samira aus seiner Zeit als junger Bohemien in Paris zu erkennen. Kurz entschlossen fährt er nach Paris. Es ist 2015 und die Stadt ist gerade von mehreren Terroranschlägen traumatisiert. Und er erkennt Echos an Ausgrenzung: Die Menschen aus den Pariser Vororten, meist mit nordafrikanischen Vorfahren, gehören, auch wenn sie in Frankreich geboren sind und nie woanders gelebt haben, nicht dazu. Genausowenig wie seinerzeit die Besatzungskinder = Niemandskinder in Tirol.

Bauer gelingt es, diese Nichtanerkennung in der Sprache aufflammen zu lassen, dem Vorortdialekt Samiras, dem deutschen Akzent seiner Herkunftsfamilie in Österreich. Ein ausländischer Name oder eine Wohnadresse in einer schlechten Gegend macht dich sofort verdächtig, auch wenn du dem Pass nach Einheimische*r bist.

Die Verbindung zwischen den vielen Zeitebenen schafft Bauer durch fließende Übergänge zwischen gegenwärtigen Verortungen des Ich-Erzählers in Paris und den Erinnerungen, die sie auslösen. Das ist anfangs etwas verwirrend beim Lesen. Doch man muss die vielen namentlich angeführten Plätze nicht kennen und kann die Straßennamen ruhig einfach stehen lassen. Belohnt wird man mit vielen kleinen Geschichten, die in ihrer Gesamtheit einen Bogen schlagen von der Nachkriegszeit in unsere Gegenwart.

Christoph W. Bauer: Niemandskinder. Haymon 2019

Margaret Atwood: Die Zeuginnen

Die bekannte kanadische Autorin Margaret Atwood hat mehr als 50 Bücher veröffentlicht, Romane, Lyrik, Essays und sogar Graphic Novels, also gezeichnete Geschichten. Besonderes Aufsehen erregte in den 1980er Jahren ihr düsterer Roman Der Report der Magd (Orig. The Handmaid’s Tale). Darin ergreift ein ultrakonservatives und frauenfeindliches Regime die Macht in den USA und ordnet das Land neu, das nun Gilead heißt. Nur mehr die Männer haben das Sagen.

Mit der Wahl von Präsident Trump 2017 wurde das Buch plötzlich wieder hochaktuell, weil es beschreibt, wie schnell eine scheinbar stabile liberale Demokratie kippen kann. Da mehrten sich die Forderungen an Atwood, eine Fortsetzung zu schreiben und das hat sie auch getan. Die Zeuginnen erschien 2019 und bescherte Atwood gleich den prestigeträchtigen Man Booker Literaturpreis (zusammen mit der britischen Autorin Bernadine Evaristo). In Die Zeuginnen zeigt Atwood das Gilead Regime etwa ein Dutzend Jahre nach seiner Gründung. Inzwischen hat es einige “Säuberungen” gegeben, Menschen wurden hingerichtet und unter der geheuchelt ehrbaren Oberfläche werden Intrigen gesponnen, Deals gemacht und verbrecherische Lösungen für strenge Regeln gefunden. Scheidungen sind verboten, also müssen manche Ehefrauen – und gelegentlich auch Männer – sterben, wenn man eine neue Beziehung eingehen will. Im Gegensatz zum Report der Magd, in dem alle Hauptfiguren in Gilead sind, entfaltet sich hier die Geschichte durch vier verschiedene Zeuginnen: eine ältere “Tante”, ursprünglich Richterin, die sich bei der Gründung von Gilead unter Zwang mit der neuen Regierung arrangiert hat und geheime Aufzeichnungen über allerhand Missetaten hochrangiger Funktionäre führt. Aus diesen wird klar, wie korrupt das Regime ist und wie schnell es an seinen eigenen Widersprüchen und Heucheleien zu zerfallen droht. Ihre Beschreibungen werden ergänzt durch die Zeugenaussagen von Agnes, einem Teenager in Gilead, über die Zeit kurz vor dem Untergang des Gilead Regimes. Wir sehen zuerst Gilead durch die Augen von Agnes und ihrer Freundin Becka als Mädchen, die nur die Regeln von Gilead kennen. Da die Aussagen offenbar erst später aufgezeichnet wurden, bekommen wir sie jedoch ergänzt durch spätere Einsichten nach dem Zerfall des Regimes. Wie in echten Diktaturen klafft, auch als die Schreckensherrschaft von Gilead noch funktioniert, eine große Kluft zwischen der offiziellen Linie (Regeln, Versprechen, Erzählungen) und dem, was tatsächlich im Alltag stattfindet. Und alle wissen das, manche mehr, manche weniger. Doch alle halten still, meist aus Angst.

Der Gegenpol zu Agnes ist der kanadische Teenager Daisy, von der sich herausstellt, dass sie einst aus Gilead herausgeschmuggelt wurde. Ihre Pflegeeltern sind Teil eines Netzwerks, das Geflüchteten aus Gilead hilft. Ein gefährliches Engagement, das sie schließlich das Leben kostet. Damit beginnt für Daisy eine gefährliche Mission: Unter einem anderen Namen nach Gilead zurückgeschmuggelt, soll sie sich als Missionarin ausbilden lassen und so extrem belastendes Material über die Herrscher von Gilead hinausschmuggeln. Die Veröffentlichung dieses Materials wird das Regime zum Einsturz bringen.

Typisch für Atwood ist bei aller Düsternis der trockene Humor. Immer wieder wird eine Äußerung – in Gedanken – wörtlich genommen und als solche kommentiert. Damit tritt die Absurdität dieser Äußerung zutage oder der Widerspruch zwischen dem, was gesagt wurde und der Person, die es sagt, oder der Situation, in der es gesagt wird.

Sehr clever ist auch die Illustration des Buches. Jede Zeugin hat ihr Symbol: die züchtige Haube für die Frauen in Gilead, der Pferdeschwanz für Daisy im freien Kanada, die Schreibfeder für die „Tante“ – mächtiger als das Schwert – mit der sie die Untaten der Herrschenden aufzeichnet.

Eine sehr spannende Geschichte. Man muss Der Report der Magd nicht kennen, um Die Zeuginnen zu lesen, aber es macht vielleicht neugierig auf das Vorgängerbuch.

Margaret Atwood: Die Zeuginnen (Orig. The Testaments), übersetzt von Monika Baark, Berlin Verlag, 2019.

https://www.piper.de/buecher/die-zeuginnen-isbn-978-3-8270-1404-7

Brigitte Scott

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Brigitte Scott

Brigitte Scott lebt seit 20 Jahren in Inzing und ist hier im Chor Inigazingo, im Kulturausschuss als Vertreterin der Liste JuF und im Kulturverein aktiv. Bis zum Ende der gedruckten Dorfzeitung war sie viele Jahre deren (Mit)herausgeberin und vor allem an Kulturberichterstattung interessiert. Brigitte ist ursprünglich aus Salzburg und lebte 16 Jahre in England. Ihrem Beruf als Übersetzerin und Lektorin geht sie in reduziertem Umfang auch jetzt in der Pension noch nach. 2009 engagierte sie sich im Projekt Radio Enterbach und davor im Literaturprojekt Andern(w)orts, beide vom Kulturverein. Sie liebt Musik, als Chorsängerin und als rege Besucherin von Konzerten. Sie ist Mitglied des English Reading Circle, der sich jedes Monat trifft, um ein bestimmtes Buch zu besprechen, natürlich auf Englisch. Sie gartelt mit Freude, aber hauptsächlich nach der Methode "Versuch und Irrtum". Trotzdem findet sie immer wieder genug zu ernten, um ihrer Kochleidenschaft zu frönen. Saisonale und indische Küche, die sie in England erlernt hat, liebt sie besonders - und ihre Gäste ebenfalls.

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