25. April 2024
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Sternbild Stier

Lesedauer ca. 5 Minuten

Jede Nacht überspannt uns ein Zelt, aus dunklem Samt gewoben und von trilliarden Lichtern durchwirkt. Seit Urzeiten regt dieses kühle Funkeln unser Suchen und Fragen an. Wie in einem gigantischen Bilderbuch finden wir dort oben die Abbilder der Protagonisten aus Erzählungen, deren Autoren selbst längst zu Staub zerfallen sind. Ein jedes Sternbild hat seine Geschichte, ist konservierte Erzählkunst. Hier soll dazu eingeladen werden, einige dieser himmlischen Piktogramme zu entstauben und sich von ihnen auf eine Zeitreise durch menschliches Träumen leiten zu lassen.

Sternbild Stier

Geschichten vom legendären Himmelsstier erzählten sich schon die alten Mesopotamier. Dort war dieser dereinst von seinen Ketten am Himmel gelöst worden und herab auf die Erde gestürmt, wo seine gewaltige Kraft Tod und Zerstörung über die Menschheit brachte. Eine rachsüchtige Kriegsgöttin hatte ihn entfesselt und nur mit Hilfe der Helden Gilgamesch und Enkidu konnte die Bestie wieder bezwungen werden.

Auch wenn der Stier in dieser ältesten aller Geschichten seinen festen Platz findet, gehört sie eigentlich zum Sagenkreis der Jungfrau und soll daher im Rahmen ihrer Mythen erzählt werden.

Lassen wir uns vom Wörterstrom also vorerst nach Griechenland schwemmen, an die Strände Kretas, wo man sich so einiges von göttlichen Stieren zu erzählen wusste. Hier, in der Wiege der minoischen Kultur, dem Saatgut europäischer Identität, berichtete man von Frauen, die von diesen Wesen geliebt wurden. Von Männern, die ihren Ruhm und ihre Macht allein diesen majestätischen Paarhufern verdankten. Große Namen wie Europa und Theseus kamen auf den Rücken der Gehörnten in die Unsterblichkeit geritten.

Stets standen diese imposanten Geschöpfe in einer engeren Verbindung mit den großen Himmelskörpern. So waren es ursprünglich auch weiße Stiere, die mit ihren funkenschlagenden Hufen und flammenden Flanken den gleißenden Sonnenwagen des Titanen Helios über den Himmel zogen. Erst die Ankunft prähistorischer Reitervölker, die vermutlich aus den asiatischen Steppen vom Schwarzen Meer her einfielen, verdrängte dieses ursprünglichere Bild und spannte Pferde vor die himmlische Deichsel.

Lenken wir nun unseren Blick vom Himmel zur Erde, von Kreta nach Phönizien. Das Stammland dieses Königreichs lag am östlichen Mittelmeer und umschloss Teile des heutigen Libanon, Syrien und Israel. Dort herrschte einst der namensgebende König Phoinix über sein vielgerühmtes Volk. Ihm war eine Frau, Europa, entweder als Schwester oder aber als Gattin zur Seite gestellt – man erzählte sich beiderlei über die Namenspatronin unseres Kontinents.

Europas Mutter aber hieß Telephassa oder Argiope. Tatsächlich lohnt es sich, hier einen genaueren Blick auf diese Namen zu werfen, denn sie bergen den Schlüssel für ein tieferes Verständnis der kretischen Mythen.

Beginnen wir mit Phoinix: Dieses Wort bezeichnete auch das Sonnenrot. Die Bezeichnung Phoinix wäre somit auch eines Sonnengottes würdig gewesen. Die Phönizier hatten überdies auch einen legendären Ruf als Färber, der schon in der Antike weit über ihre Grenzen hinaus reichte. Gerade das Purpur, welches aus Seeschnecken gewonnen wurde, entfachte anhaltenden Begeisterung.

Telephassa hingegen war „die weithin Leuchtende“, Argiope „die mit dem weißen Gesicht“ und Europa „die mit den weiten Augen“ oder „die mit breitem Gesicht“. Es sind allesamt Namen, mit denen man auch den Mond ansprechen konnte. Oder Göttinnen, die diesen verkörperten.

Die irdische Europa in ihrem Kleid aus Menschenfleisch war gleichfalls eine hypnotisierende Schönheit, eine Zierde ihrer Zeit. Nichts liebte sie mehr, als gemeinsam mit den anderen Mädchen des königlichen Hofs an den Küsten des Mittelmeeres zu lustwandeln, Muscheln zu sammeln und Blumen zu pflücken.

Und wie es noch heute das zweifelhafte Los vieler schöner Menschen ist, so zog auch Europa die Blicke aller auf sich, denen sie begegnete. Ja selbst derer, die sie selbst nicht sah, gar nicht sehen konnte.

Schon früh stach ihr betörender Liebreiz dem Göttervater Zeus höchstselbst ins Auge. Als ihr kindlicher Leib allmählich von den Wölbungen ihrer aufsprießenden Jugend gestrafft wurde, verlangte es dem Himmelsgott immer heißer danach, sich mit dieser Sterblichen in Liebe zu vereinigen. Doch Zeus war verheiratet, mit Hera, seiner Schwester. Zurecht stets besorgt um ihre politische Position als “First Lady” des Olymps, wachte die Schutzgöttin der Ehe eifersüchtig über ihren Gatten. Rivalinnen räumte sie rücksichtslos und nicht selten grausam aus dem Weg. Aus den Versäumnissen ihrer Vorgängerinnen hatte sie gelernt.

Als Europa schließlich in der Blüte ihrer Schönheit stand, nahm Zeus die Form eines Stieres an, um sich selbst vor Heras Augen zu verbergen. Heimlich stieg er vom Himmel hinab und tauchte ins phönizische Meer. Just an der Stelle, wo Europa und ihre Mädchenschar gerade damit beschäftigt waren, Roten Oleander zu pflücken, stieg der Stiergott aus den schäumenden Fluten der Brandung empor. Sterne schienen im weißen Fell zu funkeln, als das Wasser darin seine salzigen Perlen formte, die geschwungenen Hörner ragten hoch über das massige Haupt empor und waren so klar wie das Wasser der Bergflüsse.

Zeus näherte sich zielstrebig der Gruppe junger Frauen. Erschrocken wichen diese zurück, von der seltsamen Einzigartigkeit des Tieres zutiefst verstört. Einzig Europa fürchtete sich nicht. Sie war von der Schönheit des Bullen hingerissen.

Sanftmütig, ohne Zeichen von Aggression, kam der Stier auf sie zu, ließ sich schließlich von Europa anfassen und streicheln. Blaue, harmlos knisternde Blitze zuckten da über ihre Finger, kitzelten ihre karamellfarbene Haut. Der heiße, nach Krokus duftende Atem des Gottes strich über ihren Busen, als er die junge Frau spielerisch mit seiner feuchten Schnauze neckte. Scheinbar zahm, legte Zeus sich in den warmen Sand und brachte mit dem Maul einen wunderschönen, goldenen Armreif zu ihren Füßen dar – ein Hochzeitsgeschenk, vom Götterschmied Hephaistos im Feuer der olympischen Essen geschaffen.

Als Europa das Schmuckstück neugierig hochhob, wurde sie augenblicklich vom Verlangen gepackt, den Bullen zu besteigen, auf seinem Rücken zu reiten. Die panischen Warnrufe ihrer Freundinnen überhörte sie oder nahm sie, gefangen im Zauber, gar nicht mehr wahr. Mit einem grazilen Ruck schwang sie sich auf Zeus’ muskulösen Rücken. Darauf hatte der Gott gewartet. Mit überirdischer Geschwindigkeit sprang er hoch und preschte über die Wellen aufs offene Meer hinaus davon. Die entsetzten Hilfeschreie der Mägde und Hofdamen versanken ungehört in den aufbrausenden Wogen des Mittelmeers.

Bis nach Kreta, seinem Geburtsort, trug Zeus seine Braut. Dort ging er an Land um schließlich in Europas Körper zu dringen. Es schien, aller Physik zum Trotz, eine zärtliche Vereinigung gewesen zu sein. In manchen Geschichten nahm Zeus während dieses Aktes sogar die Gestalt eines Adlers an – eine Form, die ihm besonders lieb war.

Noch in späteren Zeiten trug Zeus auf seiner Heimatinsel den Beinamen “Tallios”.

Denn in der Sprache der frühen Kreter, deren Zungen damals noch kein griechisch kannten, wurde ihr höchster Gott, ein Sonnengott, Talos genannt. Der Stier galt ihnen als seine irdische Verkörperung, doch erschien er ihnen in seinem dunklen Wesenszug auch als Nachthimmel.

Vielleicht wurde Europa aus diesem Grund nach ihrer Vereinigung mit Zeus dem sterblichen König Asterion zur Braut gegeben, einem „Sternen-König“.

Der Legende nach soll Europa von Zeus noch weitere Hochzeitsgeschenke erhalten haben. Darunter einen magischen Speer, der nie sein Ziel verfehlte und einen goldenen Hund, der schneller als jedes andere Landtier laufen konnte und Zähne aus Bronze hatte, sowie einen gigantischen, ebenfalls aus Bronze geschaffenen Riesen. Dieser patrouillierte dreimal täglich um die Insel und schleuderte bei Bedarf gewaltige Felsbrocken auf feindlich gesonnene Schiffe. Auch diesen antiken Roboter nannte man Talos.

Derart bewaffnet und beschützt konnte man Europas Herrschaftsanspruch zwar vielleicht nach wie vor anzweifeln, doch vom Thron stürzen konnte man die Götterbraut nicht.

Hier endet eine griechisch-kretische Erzählung über ihr heiliges Tier, dem Stier, um nahtlos an eine weitere anzuknüpfen, denn Europa gebar dem Zeus drei Söhne: Rhadamanthys, Sarpedon und Minos. Obwohl jeder dieser Söhne seine eigene, durchaus erwähnenswerte Geschichte hatte, wird nur die des Minos erneut von einem göttlichen Stier beherrscht werden – auf weit unangenehme Weise.

INFOBOX:

Die Konstellation Stier ist von November bis April am Abendhimmel beobachtbar und steht nördlich des gut sichtbaren Orion. Der auffälligste Stern im Stier ist Aldebaran, dessen rötlich-oranges Funkeln nur scheinbar Teil des V-förmigen, offenen Sternhaufens der Hyaden ist. Dieser, nur bei geringer Lichtverschmutzung schön erkennbare Lichterkranz, wird auch als Regengestirn bezeichnet, da sein Erscheinen am herbstlichen Nachthimmel die Ankunft der regenreichen Jahreszeit einläutet.

Aldebaran gilt als “das Auge des Stiers” und steht, vor Wut rot geworden, dem Orion zugewandt. Im älteren, mesopotamischen Mythenkreis repräsentiert das Sternbild Orion nämlich König Gilgamesch, der den Himmelsstier bezwang. Der griechische, riesenhafte Jäger Orion hingegen hatte keinen erwähnenswerten Kontakt zu Stieren. Er hetzt am Nachthimmel den Plejaden hinterher, dem Siebengestirn, dass sich knapp östlich des Stiers befindet.

Für alle, die sich nun selbst gerne auf die Suche nach den Sternbildern machen möchten, empfehle ich die App “Star Walk 2” für Smartphones und Tablets, oder eine klassische, drehbare Sternenkarte aus Karton.

Ansonsten kann man auch über folgenden Link völlig kostenfrei über den Himmel navigieren!

https://www.astronomie.de/der-himmel-aktuell/?no_cache=1

Pascal Takes
Foto: Vito Technology Inc.

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Pascal Takes

Pascal trat dem Team im November 2019 bei. In Inzing ist er außerdem Mitglied des Kulturvereins und Mitarbeiter in den Kinder- und Jugendbetreuungseinrichtungen. Besonders interessiert er sich für Sprachen, Evolutions- und Kulturgeschichte. Eine Welt ohne Halbwissen wäre Pascal's Überzeugung nach einer Welt ohne Hass. Im Dienste dieser Überzeugung versucht er wirksam sein.

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3 Gedanken zu “Sternbild Stier

  1. Der Autor muss sich für einen Fehler entschuldigen, der sich in den Text eingeschlichen hat: Der Sternhaufen der Plejaden befindet sich nicht östlich, sondern westlich des Stiers!

  2. Hallo Pascal!
    Ich freue mich immer wieder ein neues Sternbild und die Geschichte(n) dazu kennen zu lernen. Du machst das wunderbar und sehr interessant. Auf diese Art kann man nicht nur unseren Nachthimmel besser kennenlernen sondern erfährt auch noch viel über die alten Kulturen aus Griechenland, Kreta, Mesopotamien usw.
    Hoffentlich wirst du nie Müde bis alle Sternbilder gezeigt wurden.
    Danke,
    Robert

    1. Vielen Dank für die Wertschätzung! Schön zu hören, dass ich meine eigene Freude an diesen Geschichten an dich und andere Leser weitergeben konnte!

      Müde bin ich noch lange nicht, man darf gespannt bleiben! 😉

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