26. April 2024
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Sternbild Widder

© Vito Tec
Lesedauer ca. 7 Minuten

Jede Nacht überspannt uns ein Zelt, aus dunklem Samt gewoben und von trilliarden Lichtern durchwirkt. Seit Urzeiten regt dieses kühle Funkeln unser Suchen und Fragen an. Wie in einem gigantischen Bilderbuch finden wir dort oben die Abbilder der Protagonisten aus Erzählungen, deren Autoren selbst längst zu Staub zerfallen sind. Ein jedes Sternbild hat seine Geschichte, ist konservierte Erzählkunst. Hier soll dazu eingeladen werden, einige dieser himmlischen Piktogramme zu entstauben und sich von ihnen auf eine Zeitreise durch menschliches Träumen leiten zu lassen.

Das Sternbild Widder kann sich wohl nicht mit der Schönheit eines Orions oder Schwans messen, zählt es doch zu den eher unauffälligen und dunklen Sternbildern. Dafür hingegen darf auch diese Konstellation sich eines ehrwürdigen Alters rühmen:

Der Widder zählt zu den ältesten Figuren am nächtlichen Himmelskleid. Schon im 3. Jahrtausend vor Christus war er bekannt, vorerst jedoch noch unter dem Namen des „Ackerbestellers“, was auf seine kalendarische Funktion hinweisen dürfte.

Die Widdergestalt verdankt dieses Tierkreiszeichen, wie könnte es denn auch anders sein, einmal mehr den Griechen.

Jene Sage, die einst selbst vom großen Dichter Euripides in seiner Tragödie „Phrixos“ auf die Bühnen der Antike gebracht wurde, beginnt mit dem Mythenkönig Athamas, Herrscher über Thessalien. Dieser war einst mit einer Göttin vermählt, die Nephele hieß, was schlichtweg „Wolke“ bedeutet. Manch ein Mythenkenner wird bei diesem Namen wohl dennoch hellhörig werden, denn einst hatte Zeus eine gewisse Nephele dem König Ixion ins Schlafgemach geschickt. Dieser hat daraufhin die Kentauren mit ihr gezeugt. Doch handelte es sich dabei wohl um eine andere Wolke.

Unsere Nephele, die dem Athamas ins Bett geschlüpft war, schenkte ihm zwei Kinder: Phrixos „der Kraus(haarig)e“ und ein Töchterchen namens Helle. Helle – so könnte man in der damaligen Sprache der Griechen auch ein junges Reh genannt haben.

Doch Nephele wandte sich alsbald vom König ab – ihre Liebe war luftig und hübsch, doch ebenso frei und vergänglich wie die Wolken selbst.

Athamas nahm die Kinder zu sich und suchte sich bald darauf eine Sterbliche zur Königin. Seine Wahl fiel auf Ino, eine Tochter des Kadmos, dem Gründerheros der Stadt Theben.

Ino, die dem Athamas ebenfalls Nachkommen gebar, eiferte hingegen sehr und mochte den Nachwuchs ihrer entschwundenen Rivalin nicht sonderlich leiden. Vielleicht ging es ihr auch um das bekannte Problem vieler Zweitfrauen: Ihre Kinder hatten in der Erbfolge meist das Nachsehen.

Das Gesetz der “Primogenitur”, das Vorrecht des Erstgeborenen, war ein alltägliches Problem jener Gesellschaften und fand daher Einzug in zahllosen Mythen – Die blutigen Patriarchengeschichten des Alten Testaments lassen grüßen.

Inos Missgunst wuchs von Tag zu Tag, sodass ihr schließlich selbst das fröhliche Kinderlachen aus den Palastgärten unerträglich wurde. Wie grobkörniger Sand bohrten sich die Stimmen der Geschwister ins Gehör ihrer Stiefmutter, knirschten unter ihren Zähnen, heizten ihren Hass.

Irgendwann fasste Ino einen finsteren Entschluss: Sie würde sich des Phrixos und der Helle entledigen.

So bewog sie eines Tages sämtliche Frauen Thessaliens im Geheimen dazu, alles Saatkorn aus den Speichern in der Sonnenhitze zu dörren. Ob diese Frauen von Inos geschickten Lügen verführt wurden oder ob sich hier eine Form der grimmigen Solidarität gegenüber einer allzubekannten Ungerechtigkeit äußerte – wie so oft befanden die Mythendichter die Motive der Frau für nicht der Rede wert.

Die Bauern jedenfalls säten daraufhin die impotenten Samen ahnungslos aus und eine große Unfruchtbarkeit kam über das Land.

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Quälte der Hunger selbstverständlich anfangs nur die Ärmsten, wanderte er bald jedoch von der Straße zu den Häusern und von den Häusern zu den Palästen und Tempeln. Erst als das Darben an die prunkvollen Pforten des Athamas klopfte, da trat dem König der Schweiß auf die Stirne und die Pein in den Magen.

Im Handeln plötzlich flink geworden, sandte der Herrscher einen Boten nach Delphi, um dort vom Orakel des Apollon zu erfragen, was gegen diese Not zu tun sei.

Aber wieder sorgte Ino mit einem prallen Geldsäckel dafür, dass die Geschichte zu Gunsten ihrer Eifersucht verliefe. Dem Boten hieß sie bei dessen Rückkehr zu vergessen was er von der Pythia erfuhr und flüsterte ihm einen neuen Urteilsspruch ein. Einen, der Ino besser gefiel.

Mit dem Gewissen vom Silber leicht, verkündete dieser Bote mit stoischer Miene vor versammelter Königsfamilie den falschen Orakelspruch:

Die Herzen der Götter pochten voll der Missgunst gegen Thessalien, denn die Menschen hier würden es nicht ernst genug nehmen mit jener Demut, die dem Olymp gebühre. Um die Unfruchtbarkeit von den Feldern zu tilgen sei daher ein Opfer vonnöten, dass keinen Zweifel an angemessener Gottesfurcht mehr liese. Und zwar nicht irgendein Opfer – nein, es musste zu einem Teil menschlicher, zum anderen aber göttlicher Natur sein. Ja, den Göttern verlange es nämlich nach dem Blut des Knaben Phrixos, dessen Mutter ja Nephele, eine Göttin war. Nur dies würde den Zorn der Erhabenen mildern. Daher solle der Jüngling am nächsten Morgen zur Stunde des ersten Lichts sein Leben auf den darbenden Feldern geben und den Ackerboden mit seinem Lebenssaft nähren.

Nun war Athamas wohl kein sehr weiser und belesener Mann gewesen, denn als solcher hätte er sogleich gewusst, dass den Göttern Menschenopfer zur Abscheu waren.

Sein Unwissen wurde ihm zur Last, denn ihm bangte sehr um seinen eigenen Kopf.

In solche Sorgen versunken erwog er schließlich, dem gefälschten Orakelspruch Folge zu leisten. Als Helle dies aber hörte stürzte sie sich auf ihren totenbleichen Bruder und warf schützend ihre Arme um ihn.

„Soll Phrixos sterben, so sterbe auch ich! Freiwillig lege ich mich an seine Seite um mit ihm mein Leben den Göttern zu übergeben!“

Athamas, der den Zorn der Unsterblichen mehr fürchtete, als die Sterblichkeit seiner Kinder, ließ Helle gewähren. Die Geschwister wurden ergriffen und in ihr Gemach geschlossen, wo sie ihre letzte Nacht gemeinsam verbringen sollten. Königin Ino hatte freilich keinerlei Einwände.

Vor seinem Bett fiel der erschütterte Phrixos auf die Knie und flehte zu Zeus, opferte ihm alles Tränenwasser, das sein junger Körper entbehren konnte.

Und Zeus erhörte den Jungen, denn sein Herz war ihm milde gewogen. Der Wolkensammler ließ den Goldenen Widder rufen, ein geflügeltes und auch sonst sehr wunderliches Tier.

Das Schaf war selbst ein Sohn des Poseidon, der ihn einst mit der sterblichen Prinzessin Theophane gezeugt hatte. Gestohlen hatte der Meeresgott die Jungfrau, denn sie wurde ob ihres Liebreizes von vielen Männern umworben. Gestohlen und entführt, auf eine nicht näher bekannte „Widderinsel“, wo er sie und sich und alle anderen Menschen, die sich auf jener Insel befunden hatten, in Schafe verwandelte. So konnte Poseidon von den erzürnten Freiern unerkannt seinen Gelüsten mit Theophane freien Lauf lassen.

Der Spross dieser Vereinigung war ebenjener Goldene Widder, den Zeus nun auf flinken Schwingen zu dem gefangenen Geschwisterpaar hinabsandte.

Auch Nephele, die Mutter, kam ihren Kindern zur Hilfe: Sie bewog mit süßen Worten den Gott Äol, der über die Winde herrschte, seine Macht zu Gunsten des Tieres zu entfesseln.

So gelangte der goldene Widder, von freundlichen Stürmen getragen, zum Verlies des Phrixos und der Helle, schlüpfte durch das Fenster in ihr Gemach und hieß den beiden, auf seinem Rücken zu steigen.

Die Kinder, fassungslos vor Glück, sprangen auf – und schon waren sie in die Nacht entschwunden. Nur der Widder kannte ihr Ziel.

Athamas und Ino aber wurden von Zeus hart bestraft – noch in derselben Nacht schlug er ihren Verstand mit Irrsinn und vernebelte ihnen die Geister. Denn solches und schlimmeres war die Strafe für all jene, die es auch nur zu denken wagten, einen Menschen an die Olympier zu opfern.

Die Flucht war jedoch lang und der kleinen Helle fehlte bald die Kraft, sich weiterhin auf dem schmalen Rücken des Widders zu halten und dabei den kalten Nachtwinden zu trotzen. Schließlich verlor sie den Halt und stürzte mit einem erschrockenen Schrei auf den Lippen in die Tiefe. Dort, bei den Dardanellen, wo sie das kühle Meer empfing, trägt es für manche noch heute ihren Namen: Hellespontos – „Das Meer der Helle“. Auch wenn uns von ihrem weiteren Schicksal keine schriftlichen Werke überliefert sind, so scheinen antike Malereien indes anzudeuten, dass die Jungfrau den Sturz überlebte und zu einer Gemahlin des Poseidons wurde – Zweifelsohne sein „gerechter Anteil“ als Vater des Widders.

Phrixos aber kam sicher in Kolchis am Schwarzen Meer an, wo König Aietes regierte, ein Sohn des Sonnengottes Helios und Bruder der berüchtigten Zauberin Kirke. Aietes nahm Phrixos freundlich in seinen Palast auf und gab ihm eine seiner schönen Töchter, Chalkiope, zur Frau.

Phrixos war es vergönnt, ein hohes Alter zu erreichen und friedlich im Kreise seiner Liebsten zu versterben.

Der Widder aber wurde nach dem Flug dem „Zeus Phyxios“, dem Schutzherrn der Flüchtlinge, geopfert. Seinen goldenen Pelz brachte man in einen heiligen Hain des Kriegsgottes Ares, wo er, an einen Baum genagelt, fortan von einer Schlange oder einem Drachen bewacht wurde.

Später sollte der Held Jason gemeinsam mit seiner Mannschaft, den Argonauten, aufbrechen, um eben jenes Goldene Vlies zu erbeuten. Die unsäglichen Gräueltaten und Tragödien, die mit diesem Beutezug einher gingen, finden in dieser Erzählung allerdings keinen Platz mehr.

Hier findet diesmal selbst der Widder ein halbwegs schönes Ende: Nach seiner Opferung wird er von Zeus zum Dank für seine Dienste als Sternbild der Unsterblichkeit an die Brust gelegt.

INFOBOX:
Der Widder kommt selbstverständlich in vielen Mythen vor. Als heiliges Opfertier kam ihm wohl von jeher schon eine besondere Bedeutung zu. In vielen Mittelmeerkulturen wurde er als würdiger „Ersatz“ für das Menschenopfer geachtet. Auch in diesem Mythos war er ursprünglich (wie aus einer anderen Erzählung hervorgeht) anstelle des Phrixos als Opfer für die Felder angedacht gewesen.
Vor allem scheint der Widder aber gerne als Fruchtbarkeitssymbol aufzutauchen, erscheint aber auch zuweilen als eine Form des Sonnengottes – was schließlich in keinem Widerspruch zueinandersteht.
Zeus, ein äußerst fruchtbarer Himmelsgott, verwandelte sich einst aus Furcht vor dem Monster Typhon in einen Widder und versteckte sich in Ägypten, wo er – nach griechischer Sicht – zum Gott Amun wurde. Dieser, gleichsam ein Fruchtbarkeitsgott, wurde von den Ägyptern teils selbst als Widderköpfig dargestellt.
Ein schönes Beispiel für die Gelassenheit und Konvergenzen polytheistischer Weltanschauungen.
Auch Poseidon vollzog, wie bereits erwähnt, eine seiner „Hochzeiten“ in der Gestalt des Widders. Zwar ist Poseidons heiliges Tier bekanntermaßen das Pferd, doch wurden Rösser erst später nach Griechenland gebracht. Sie kamen einst vom Norden her, wo es die Steppenvölker östlich des Schwarzen Meeres wohl als eine der ersten Kulturen domestizierten und bei ihren kriegerischen Expansionen folglich einschleppten. Das semitische Volk der Hyksos, die kurzweilig dank ihrer Streitwägen sogar die Herrschaft über Ägypten übernehmen konnten, waren so vielleicht die Ersten, die das Pferd um 1700 v. Chr. in den Mittelmeerraum brachten.
Zuvor hatten dort viele Götter Schafs- oder Widdergestalt – nebst Poseidon und Zeus auch Hermes im Namen der Fruchtbarkeit und Apollon in seiner Funktion als Sonnengott.
Dem germanischen Gott Heimdall war der Widder ebenfalls heilig. Er trägt sogar den Namen dieser Tiere, die man im altnordischen „heimdali“ nannte. Heimdall galt als Vertreter des jüngeren Göttergeschlechtes: den Asen. Diese, zu denen auch solch prominente Götter wie Thor/Donar, Odin/Wodan und Loki zählten, hausten in ihrem Wohnsitz Asgard. Heimdall war der Wächter dieses Palastes und ihrer Brücke, Bifröst, welche Midgard, das Reich der Menschen, mit dem der Götter verband. Auch wenn diese Götter hierzulande längst vom Kreuz vertrieben sind – Bifröst blieb bestehen. In der Gestalt des Regenbogens verbindet diese Brücke noch heute das regenfeuchte Gras Midgards mit den wasserreichen Wolken.
Für alle, die sich nun selbst gerne auf die Suche nach den Sternbildern machen möchten, empfehle ich die App “Star Walk 2” für Smartphones und Tablets, oder eine klassische, drehbare Sternenkarte aus Karton. Ansonsten kann man auch über folgenden Link völlig kostenfrei über den Himmel navigieren!
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Pascal Takes

Pascal trat dem Team im November 2019 bei. In Inzing ist er außerdem Mitglied des Kulturvereins und Mitarbeiter in den Kinder- und Jugendbetreuungseinrichtungen. Besonders interessiert er sich für Sprachen, Evolutions- und Kulturgeschichte. Eine Welt ohne Halbwissen wäre Pascal's Überzeugung nach einer Welt ohne Hass. Im Dienste dieser Überzeugung versucht er wirksam sein.

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