Eine anekdotische Erzählung von Hannes Heinrich aus Bergisch Gladbach
Zwei Wochen nach unserer Flucht nach Inzing wurde unser Wohnort Köttenich und die angrenzenden Städte Düren und Jülich durch einen Bombenhagel dem Erdboden gleichgemacht. Allein in der Nacht zum 20. November 1944 starben dadurch 20.000 Menschen. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, die Orte unverzüglich zu verlassen. Zwei Generäle mit ihren Stäben, die in unserem großen Haus einquartiert waren, brachten meinen Vater, der zur Beaufsichtigung der umfangreichen Werksanlagen nach Köttenich zurückgekehrt war, und unsere Schwester Erika binnen Stunden in zwei Panzerfahrzeugen aus dem Frontgebiet sicher in den württembergischen Ort Ay, in welchem das von meinem Vater zwischenzeitlich allein geleitete Unternehmen einen Zweigbetrieb unterhielt. Dort wurde die Produktion bis Kriegsende im Mai 1945 fortgeführt. Danach erhielten die Gesellschafter des Unternehmens, Leopold und Louis Schoeller, sowie mein Vater von den Alliierten zwei Jahre Berufsverbot auferlegt. So mussten neue Existenzen aufgebaut werden.
Meine Eltern verloren durch den Krieg nahezu ihr gesamtes Vermögen. Geblieben war unser Landhaus in Inzing. Aber auch hier mussten wir fürchten. Jedoch dank des guten Verhältnisses zum Bezirkshauptmann von Innsbruck, Herrn Baron Riccabona, sagte dieser: „Über diese Familie halte ich meine Hand!“ So sind wir von diesem bösen Schicksal verschont geblieben.
Mein Vater hatte für unseren Lebensunterhalt in Inzing eine beachtliche Summe Geld auf ein Konto bei einer Innsbrucker Bank überwiesen. Auch dieses sperrten die österreichischen Behörden nach Kriegsende und gaben es nicht wieder frei. Die Überbrückung war nicht einfach.
Wohlwollend geblieben sind uns die Inzinger: Von den Müllermeistern Hurmann und Gnitscher erhielt meine Mutter immer einmal ein Säckchen Griesmehl. Die benachbarte Bäuerin, die liebe Frau Kirchmair, und auch die Familie des Medizinalrates Dr. Hirschberger versorgten uns des Öfteren mit kräftiger Vollmilch. Von der Nachbarin, Mathilde Hurmann, durften wir einmal in der Woche eine Kanne Buttermilch mit vielen Butterstückchen darin holen. Das alles war ein gutes Zubrot!
Als wir am Morgen des 9. November 1944 unser Inzinger Haus betraten, war es darin bitterkalt. Wir kamen aus einem verwöhnten Haushalt mit wohliger Wärme. Die Zimmer im Inzinger Haus waren mit Holzofen ausgestattet. Zu unserer großen Beruhigung konnten wir von den Inhabern des angrenzenden Sägewerkes, den Brüdern Karl und Georg, genannt Schorsch, Mariner, die für den Winter erforderlichen Holzvorräte günstig erwerben. Außerdem durften wir zum Erhitzen des Küchenherdes hinter dem Sägewerk lagernde Spreißel abholen. Das waren die seitlichen Baumrinden von Brettern, die im Sägewerk gefertigt wurden. Jeden Samstag am Nachmittag mussten Arno und ich die Spreißel zu heizfertigen Stücken hacken. Dazu schliff uns der Mariner Schorsch zwei Beile und schenkte uns dazu zwei große klobige Hackstöcke. Die Leute sagten immer zu uns: „Da müsstet ihr ein Fließband haben, sonst muss Eure Mutter zum Heizen andauernd die Scheiter nachfeuern.“
Als an einem Samstag-Nachmittag Arno und ich wieder Spreißel hackten, kam die Häuserin vom Pfarrer die Kohlstatt hinauf. Als wir sie sahen, fingen Arno und ich lauthals an zu fluchen. Da sagte die Häuserin freundlich zu uns: „Buben, tut’s nit auf den Herrgott schimpfen, denn er beschützt euch doch.“ Das beherzigten wir dann auch.
Die Gemeinde Inzing stellte uns aus ihrem Waldbestand hoch oben kostenlos fünfzehn Fichtenbäume für Heizzwecke zum Fällen zur Verfügung. Bedingung war, dass alle damit verbundenen Arbeiten durch uns durchgeführt werden mussten und wir das Waldgebiet wieder in ordentlichem Zustand zu verlassen hatten. Zur Durchführung der Holzarbeiten stand uns unser lieber Nachbar, Johann Draxl, stets hilfreich zur Seite. Er brachte Arno und mir nach und nach das Handwerk bei und blieb auch weiterhin unterstützend bei uns. Johann fällte die Bäume so geschickt, dass sie beim Fallen andere Fichten in Mitleidenschaft gezogen haben. So wurden aus den fünfzehn zugesagten Bäumen zwanzig!
Nach dem Fällen entfernten Johann und Arno die Äste, mir oblag als Jüngstem das Schebsen der Rinden. Die Baumstämme wurden sodann in gut transportierbare Stücke geteilt, sodass die Hölzer leichter durch den Schnee zu Tal gleiten konnten. Den Transport besorgten Johann und Arno. Ich wurde an der Eselsmühle postiert, um die Stämme, die durch die Eisglätte des “Milltales” (Mühltal) glitten, mit einem Zapin abzufangen. Aber, dazu war ich mit meinen elf Jahren zu schwach. So drifteten die Hölzer durch die eisige Kohlstatt bis zum Anwesen der Familie Schatz, etwa 150 Meter unterhalb unseres Hauses. Dort wurden sie von zwei kräftigen Männern der Familie Schatz gestoppt und von diesen zum Sägewerk Mariner gebracht, wo die Baumteile zu Holzklötzen geteilt wurden. Arbeiter des Sägewerks brachten diese schließlich auf einen Platz hinter unserem Haus, wo Arno und ich sie nach und nach zu Holzscheiten aufhackten und sodann zum Trocknen an einer Hauswand aufschlichteten. Manche Klötze waren so hart, dass Arno und ich sie nicht klieben konnten. Da half uns der Sohn des Leiters des nahegelegenen E-Werkes der Gemeinde Inzing, der liebe Peppi Köhle, und brachte dazu mehrere Eisenkeile mit. Er haute einen nach dem anderen in die Hölzer, aber auch das half nicht. Diese musste sodann unser lieber Nachbar, Johann Draxl, mühsam wieder herauslösen.
Die “Eselmühle”-Besitzer: 1896 Vinzenz Klotz, 1908 Johann Cavada, 1908 Vinzenz Klotz, 1929 Maria Hirschberger und Kinder, 1961 Dr. Hans Hirschberger, 1963 Georg Mariner, 1967 Gemeinde Inzing. Dann wurde sie abgebrochen und der Gemeindebauhof errichtet. Mariner Georg wohnte dort mit seiner Familie in den 20er Jahren.
Das alles waren die ersten Liebesdienste, die wir von Inzinger Bürgern erfahren durften. Mit unseren Dankesgesten haben wir nicht lange gewartet.
Da wir im November 1944 die Auskunft bekamen, dass die Innsbrucker Gymnasien in das Unterinntal ausgelagert worden wären, konnten wir unseren Schulbesuch erst im Herbst 1945 wieder fortsetzen. Neue Schüler wurden vorher nicht mehr aufgenommen. Arno verdingte sich so lange als Hilfskraft im Sägewerk Mariner.
Ich besuchte die sechste Klasse der Volksschule in Inzing. Lehrer war der strafversetzte Erzieher von Rudolf von Habsburg, ein gütiger, älterer Herr. Mein Banknachbar war Rudolf Gassler vom Monneshof, in der Bank hinter mir saßen Otto Gastl von der gleichnamigen Metzgerei und Stefan Mair aus einer kinderreichen Inzinger Handwerkerfamilie.
Mit Otto Gastl und Stefan Mair und ihren späteren Ehefrauen Midl und Luise verbanden uns jahrzehntelange Freundschaften, die bis zum traurigen Tode von Otto und Midl Gastl sowie von Stefan Mair andauerten. Luise Mair behalten wir dankbar in unserem Herzen. Sie hat uns gemeinsam mit ihrem Mann Stefan lange Jahre treue Dienste geleistet. Mit Otto und Midl Gastl trafen wir uns alljährlich zu einem leckeren Abendessen, einmal bei uns, dann wieder bei Midl und Otto.
Bei einem ihrer Besuche hat unser Hund vorher die ganze Wurstplatte aufgefressen. Bei Otto Gastl durften wir manches Mal in seine Wurstküche. Dort gab es neben einer Flasche Adam-Bräu stets mehrere köstliche Münchner Weißwürste. Eine Spezialität von ihm. Als Otto einmal einem Kalbskopf die Augen ausstieß, da musste ich mich neben einer Wurstschüssel fürchterlich übergeben.
Bei schriftlichen Arbeiten in der Schule ließ ich meine Bankgefährten immer bei mir abschreiben. Das gab zur Freude unseres Lehrers stets gute Noten!
Im Herbst 1945 setzten wir unseren Schulbesuch in Innsbruck fort. Arno besuchte die Oberrealschule am Adolf-Pichler-Platz, ich trat in die zweite Klasse des Bundesgymnasiums und Realgymnasiums in der Angerzellgasse und unsere Schwester Erika in das Mädchengymnasium in der Sillgasse ein. Ich musste ein Jahr Latein nachholen, was mir dank Nachhilfe gelang.
Wir alle haben die Schulen, ich später die Handelsakademie, mit der Matura beendet und studierten anschließend bis zur erfolgreichen Ablegung der Promotion an den Universitäten Köln und Innsbruck. Unsere älteste Schwester Grete, die in Reutlingen, Württemberg, Textilchemie studiert hat, heiratete nach dem Krieg. Ihr jüngster Sohn von fünf respektablen Kindern ist als Jurist Präsident des obersten Bundessozialgerichtes in Kassel.
Nach dem Krieg fuhren die Personenzüge von und nach Innsbruck bis zum Ende des Jahres 1945 nur morgens und abends. So mussten wir den siebzehn Kilometer langen Weg mittags zu Fuß nach Hause antreten. Nach einem kargen Mittagessen erledigten wir dann unsere Schulaufgaben für den nächsten Tag. Das war keine einfache Zeit!
Meinen besten Inzinger Freund, Franz Beiler, lernte ich im Sommer 1948 auf dem nahe unseres Hauses liegenden Bergplateau Prantl kennen. Unsere Freundschaft währt nun schon mehr als siebzig Jahre. Im Sommer dieses Jahres vollenden wir beide unser 88. Lebensjahr. Auch unsere Partnerfrauen, Karla und Nelli, verstehen sich prächtig. Es ist eine wahre, tiefe und enge Bilderbuchfreundschaft! Vor meiner angestrebten Hochzeit, ich war damals schon fast 35 Jahre alt, da zog mich Nelli beiseite und sagte warnend zu mir: „Wenn du jetzt auch die Karla nicht heiratest, dann fotz‘ ich Dir eine!“ Mein damals hohes Alter verdanke ich meinen sehr schwierigen Berufsexamina. Diese beanspruchten Zeit! Mit Karla führe ich nach nunmehr 53 Jahren eine sehr glückliche Ehe!
Mit der Zeit gesellten sich immer mehr Freunde zu uns, unter ihnen auch der Markt Heinz vom Gasthof Traube, heute Stollhofer. Mit ihm unternahmen wir manche lustige Streiche, von denen ich hier nicht berichten möchte. Aber, sie haben viel Spaß bereitet. Heinz ist leider allzu früh verstorben. Er hinterließ eine tüchtige Frau und zwei sehr erfolgreiche Söhne. An Sonntagnachmittagen unternahmen wir bei gutem Wetter längere Radtouren, unter anderem die Drei-Pässe-Fahrt über den Flexen- und Fernpass. Als wir auf dem Rückweg den Zirler Berg herunterfuhren, da erhitzte sich vor lauter Bremsen der Freilauf des Fahrrades. Da pinkelten wir einfach darüber und fuhren getrost nach Hause.
Meine Mutter war sehr bedacht, dass Arno und ich an Sonntagen das Hochamt in der Inzinger Pfarrkirche besuchten. Als wir auf dem Vorplatz der Kirche ankamen, stand dort eine Gruppe von Männern, die am Krieg teilgenommen hatten und von ihren Erlebnissen erzählten, darunter viele Gräueltaten. Von Arno und mir wurden die Ohren immer länger. So vergaßen wir, die heilige Messe zu besuchen.
Als der Kooperator dies bemerkte, kam er nach der Predigt auf den Vorplatz und jagte uns, laut schimpfend, in die Kirche. Die nächste Unterhaltung fand dann in der Leichenhalle statt, die sich seitlich der Kirche auf dem Friedhof befand. Bei einer Beichte, offensichtlich erkannte mich der Kooperator durch das Gitter, fragte er mich nach dem Vorfall. Dafür bekam ich als Buße zehne „Vater-unser und Ave-Maria.“
An einem Neujahrstag besuchte ich mit meinem Freund Franz mehrere gut bekannte Familien, um ihnen ein allseits zufriedenes und gesundes Neujahr zu wünschen. Überall bekamen wir reichlich Schnaps zu trinken, bei Familie Hule obendrauf noch einen süßen Likör. An meinen Mantelknöpfen hing nachher lauter Christbaumschmuck. Halbtrunken ließen dann Franz und ich die Sirene im Dorf an, das gab eine Aufregung! Als Franz und ich am Ende unserer Tour zum Nachbarn, Hermann Melauner, kamen, warf der uns sofort hinaus, weil er Angst hatte, wir würden auf seinen neuen Wohnzimmerteppich erbrechen. Zuhause kam ich schließlich volltrunken an. Unser Hausmaler musste bestellt werden, um die Spuren meines Rausches zu beseitigen. Er war dafür bekannt, dass er geizig war. Als er eines Abends von der Arbeit nach Hause fuhr und am Zirler Berg mit seinen zehn Gesellen Rast machte, bestellte der Meister in dem Rasthaus für diese eine Flasche Bier mit zehn Gläsern!
Bei einem unserer Sommeraufenthalte in den siebziger Jahren bat mein Vater Professor Obleitner, die von ihm geschnitzte, zwei Meter hohe Brunnensäule in unserem Inzinger Garten einer gründlichen Wartung zu unterziehen. Kurz darauf kam Professor Obleitner, um die Arbeiten zu verrichten. Ich musste ihm dazu die Leiter halten und immer wieder eine Flasche vorgewärmtes Bier reichen. Als er den Pegel erreicht hatte, begann er richtig zu arbeiten. Professor Obleitner nahm auch am Mittagessen teil. Meine Mutter hatte als Vorspeise eine Nudelsuppe zubereitet. „Ja“, sagte er spontan, „eine Nudelsuppe ist ein Herrenschwimmbad.“ Wir mussten das Lachen unterdrücken, aber meine Mutter fand diese Aussage gar nicht passend.
Ein besonderes Ereignis für Inzing war der wöchentliche Besuch von Feriengästen, die das Reisebüro Blaue Kur in Wiesbaden vermittelt hat. Inzinger Familien haben dafür in ihren Häusern ansehnliche Unterkünfte eingerichtet und an Feriengäste vermietet. Wir versammelten uns zu vier Freunden an Sonntagabenden auf dem Dorfplatz, wo die Busse ankamen, und begutachteten die ankommenden Gäste, besonders die darunter befindlichen Mädchen.
Am nächsten Tag erkundigten wir uns im Reisebüro, welches sich in Räumen der Raiffeisenkasse Inzing befand, wo die Mädchen nächtigten, und bekamen wohlwollend Auskunft. Gesagt, getan! An einem der nächsten Abende stellten wir zu viert beim Pfrillerhaus eine Leiter an, wo drei der Mädchen einquartiert waren. Heinz Markt hielt unten die Leiter, damit wir bequem zu dritt zu den im ersten Stock befindlichen Mädchen hinaufklettern konnten. Oben angekommen, warfen wir die Leiter zu Boden, sodass Heinz nicht mehr nachklettern konnte. Pfiffig wie er war, ging er eilends zur Gendarmerie im Ort und zeigte uns namentlich an. Der anwesende Inspektor schnallte daraufhin sein Koppel um, gab seine Pistole hinein und setzte seine Dienstmütze auf. Dann ging er sofort zum Pfrillerhaus. Dort entdeckte er im ersten Stock sogleich drei etwas entblößte Liebespaare. Er ermahnte sie, mit ihrem Liebesspiel aufzuhören und erteilte den Männern Hausverbot. Unter ihnen befand sich auch sein späterer Schwiegersohn.
Es ging die Mär um, dass der Bürgermeister der Gemeinde Zirl von dem Direktor eines Mädchenpensionates in einer Kleinstadt in Württemberg einen bösen Brief erhielt, in welchem zu lesen war, dass die Hälfte der Mädchen, die in Zirl einen zweiwöchigen Ferienaufenthalt verbracht haben, schwanger geworden seien. Er forderte die Namen der vermeintlichen Väter ein. Dies war natürlich nicht zu bewerkstelligen. Ich glaube aber, dass darunter auch Inzinger Liebhaber beteiligt waren. Eine wahre Heldentat! Die Inzinger Herren, so muss man sie wirklich loben, haben auch die nachfolgenden Damen der Blauen-Kur-Gäste liebevoll begleitet. Daraus entstand manche Hochzeit. Von mir darf ich berichten, dass ich mich einmal zu später Stunde mit einem prallen Mädchen aus der Gästeschar der Blauen Kur sichtlich amüsiert habe. Als ich am nächsten Tag die platt gewalzte Rasenfläche in der Inzinger Raakes meinem Freund Franz zeigte, da meinte er eindrucksvoll: „Soviel Platz hätte ich nicht gebraucht.“
Eine Begebenheit flechte ich gerne noch ein, weil ich sie nur ungern unerwähnt lassen möchte: Die Inzinger nannten ihren Dorffriseur liebevoll den Tutten. Er war ein Original, und öffnete seinen Salon im Untergeschoss des Schlierenzauerhauses nur dann, wenn er Lust zum Haareschneiden verspürte. Das Haar befeuchtete er nach dem Schneiden immer mit Rapsöl. Dieses stank grausam und fürchterlich. Zum Rasieren konnte man sich bei ihm immer kostenlos seinen alten Philips-Trockenrasierer ausleihen. Gesäubert hat er ihn nie, auch nicht, wenn er ihn selbst bediente zur Rasur an Kunden.
Mein vier Jahre älterer Bruder Arno hatte in Inzing und Umgebung viele Freundinnen. Wir wurden oft verwechselt, weil wir ähnlich aussahen und im Winter immer die gleichen Lodenmäntel trugen. So wurde auch ich immer von Arnos Freundinnen angesprochen, musste aber leider immer sagen, dass ich nur sein Bruder war. Da zogen sie dann enttäuscht ab.
Arno und Frieda Wanner vom Gasthof Lamm in Inzing waren einander sehr zugetan. Unsere Familie schätzte Frieda auch sehr und hätte sie gerne als Schwiegertochter aufgenommen. Doch Arno war fest in den Krallen seiner Unterinntaler Freundin, Erika – die den Namen des ehrbaren Tiroler Freiheitshelden Speckbacher trug.
Am Abend vor der Hochzeit mit Erika Speckbacher kamen viele Inzinger in unser Haus, um Arno Beistand zu leisten. Darunter war auch der Blitzen Toni mit seiner Lanze, der gerade die von der Gemeinde Inzing einmal im Jahr die an ansässige Familien verordnete Nachtwache hielt. Er sagte immer zu Arno: „Du wirst es schon schaffen.“ Denn Arno sagte: „Ich will gar nicht heiraten!“
Meine beiden Schwestern flößten Arno einen Liter Nervophyl ein, und mein Vater trank zwei Flaschen seines geliebten Rotweines Lagreiner Krätzer. Dabei ging er durch das Haus und sang lauthals: „Mein Land Tirol.“ Ich hatte den festen Eindruck, dass er bei der Trauung am nächsten Morgen noch nicht vollkommen ausgenüchtert war.
Mein Bruder Arno war fester Bestandteil der Dorfgemeinschaft Inzing. Er hätte sicherlich noch mehr über Inzing berichten können. Leider ist er vor Jahren gestorben und ruht nun neben seiner Frau Erika auf dem Friedhof im Tiroler Ort Vomp. Arno war es besonders angetan, mit Inzinger Bauern am Viehtreiben in umliegende Almen teilzunehmen. Als er einmal auf dem Rückweg vom Karwendel einen amerikanischen Besatzungsoffizier in Englisch begrüßte, da sagte dieser: „Ich wusste gar nicht, dass Eure Knechte auch Englisch sprechen können.“
Nach unserem zehnjährigen Aufenthalt besuchte unsere ganze Familie, von den Großeltern bis zu den Enkelkindern, alljährlich Inzing. Meine Eltern verbrachten in ihrem Ruhestand mehrere Monate im Jahr unter der Pflege meiner ältesten Schwester Grete und meiner Frau Karla in ihrem Inzinger Haus. Dabei pflegten sie ein inniges Verhältnis zu den Nachbarn. Nachdem wir einige Zeit nach dem Tode der Eltern das Haus, im vollen Umfang saniert, aus Altersgründen in andere Hände gegeben haben, blieb Inzing der Ruhepol unserer jährlichen Reisen. Wir hoffen und wünschen, dass uns dies im nunmehr betagten Alter weiterhin möglich sein wird.
Damit bin ich am Ende meines Berichtes über unser Dasein und die bleibende Bindung an Inzing angekommen, Inzing hat mich in dieser Zeit als Menschen spürbar geprägt! Ich möchte deshalb meinen Ausführungen einen Auszug aus einer Rede anfügen, die anlässlich meiner altersbedingten Verabschiedung aus dem Beruf eine hohe Persönlichkeit gehalten hat. Ihm verdanke ich auch manchen Besuch in Inzing.
Ich zitiere wörtlich:
„Auf die Persönlichkeitsentwicklung unseres Hannes, der eine wichtige Phase seiner Kindheit und Jugend in Tirol verbracht hat, hat das Innsbrucker Land deutlich eingewirkt. Innerhalb der Dorfgemeinschaft, in der man lebt, entwickeln sich Freundschaften, die in aller Regel über Jahrzehnte bestehen bleiben. Die Abgeschlossenheit der Bergtäler, die Naturgewalten, denen der Tiroler ausgesetzt ist, machen ihn zu einem besonnenen, abwägenden Menschen, der keine Herausforderungen scheut, und beim Ankämpfen gegen Widrigkeiten mit Beharrlichkeit und Umsicht vorgeht. Bezieht man diese Charakterisierung auf Herrn Dr. Heinrich, so kann man feststellen, dass der Tiroler in ihm dominant ist: unbedingte Zuverlässigkeit, Hilfsbereitschaft und Einsatzfreude gehören zu seinen hervorstechenden Charaktereigenschaften. Gepaart mit Tiroler Liebenswürdigkeit ist Herr Dr. Heinrich unverwechselbar.“
Alle Inzinger und Inzingerinnen grüße ich sehr herzlich und erbitte für sie Gottes Segen. Der heutigen Dorfzeitung Inzing danke ich für ihren Beistand. Sie ist eine vortreffliche Ergänzung und Bereicherung des Inzinger Gemeindeblattes. Ich wünsche der Dorfzeitung eine erfolgreiche und inhaltsreiche Zukunft.
Bergisch Gladbach, im April 2021,
Hannes Heinrich