21. November 2024
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“Abrechnung” mit Inzing – Reflexionen eines vor mehr als 30 Jahren “Zuagroasten”

Lesedauer ca. 4 Minuten

Von Zeit zu Zeit ist es sinnvoll, ja geradezu notwendig, innezuhalten und zu überlegen, was bei einem Projekt oder im Leben generell bis dato gut gelaufen ist bzw. was es zu verbessern respektive zu ändern gilt.

So möchte ich einen Blick zurück auf mehr als 30 Jahre Wohnen und Leben in Inzing werfen. Als wir, meine Familie und ich, im Jahr 1991 nach Inzing gekommen sind, war die Erleichterung groß, mit zwei kleinen Kindern von der städtischen Enge in die wohltuende Weite des ländlichen Raums (der dennoch in unmittelbarer Reichweite urbaner Lebensqualität war) zu kommen. Auf den ersten Blick konnte man erkennen, dass es in diesem Dorf sehr viele Möglichkeiten gibt, sich einzubringen, wenn man das möchte. Dies ließ mich in einer prinzipiell sehr positiven, ja fast euphorischen Grundstimmung darangehen, das Dorf zu erkunden. Am Ende des Artikels wird man sehen, wie viel von dieser Grundstimmung übriggeblieben ist.

Was mich also von Anfang an faszinierte, war die Buntheit und die pluralistische Zusammensetzung der Bevölkerung. Dies äußert sich unter anderem in der Tatsache, dass es nach wie vor mehr als 50 Vereine gibt (neben den etablierten Traditionsgemeinschaften wie FFW, Musik, Chöre, Schützen sowie größeren und kleineren Sportvereinen auch “Exoten” wie Modellbauclub, Waldmander, Windhunderennclub u.v.m.), was zum Gelingen gesellschaftlicher Harmonie viel beitragen kann.

Darüber hinaus ist in Inzing dadurch ein besonderes Flair entstanden, dass hier Menschen aus über 50 verschiedenen Ländern leben, was einerseits den Integrationswillen aller Beteiligten beansprucht, aber andererseits einen enormen Zuwachs an Talenten, Ideen und kulturellen Bereicherungen mit sich bringt.  

Foto: E. Pisch (Entwurf von Sabrina Walch)

Beim Fest der Kulturen im November 2018, veranstaltet vom Freundeskreis für Integration/FKFI, konnte man diese Vielfalt hautnah erleben. Es wäre auch interessant, einmal ein Fest zu veranstalten, das die Zuwanderer aus anderen Teilen Tirols bzw. Österreichs in den Mittelpunkt stellt.

Die VORZÜGE Inzings als Lebensmittelpunkt sehe ich in

– der gelebten kulturellen Vielfalt,

– dem großen Ausmaß an Hilfsbereitschaft besonders in Notfällen in Form von Nachbarschaftshilfe bzw. in Form der Freiwilligenarbeit (z.B. bei der Vinzenzgemeinschaft, dem FKFI oder der Rumänienhilfe – um nur ein paar wenige zu nennen – oder auch beim Organisieren von Festen),

– kommunalpolitisch sinnvollen Projekten (Wasserversorgung, 5€-Wohnungen, Tempo 30-Regelung, Gemeinschaftsgarten…),

– der infrastrukturellen Erschließung, besonders der guten Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz und der damit in Zusammenhang stehenden Möglichkeit, diverse Angebote im Großraum Innsbruck bequem nutzen zu können,

– ortsspezifischen, besonderen Initiativen (bspw. Bauernladen, Repair Café…).

Natürlich gibt es in einer Gemeinschaft von ca. 4000 Menschen auch negative Entwicklungen bzw. Tatbestände:

– Ich habe im Rahmen meiner Tätigkeit beim FKFI erfahren müssen, dass es auch bei uns eine Gruppe von Leuten gibt, die dem Prinzip der “Mir san mir”-Mentalität intensiv frönen und alles Neue als bedrohliche Entwicklung sehen.

–  Was die Dorfpolitik betrifft, würde ich mir eine “Gemeindestube” gänzlich ohne parteipolitische Abhängigkeiten wünschen, um noch mehr die Konzentration auf Sachthemen zu gewährleisten.

– Ein eindringliches Erlebnis am Bahnhof Inzing hat mir einen Missstand drastisch vor Augen geführt, als eine junge Frau mit einem kleinen Buben an der Hand und einem Baby im Kinderwagen nach Ankunft am BH Inzing um etwa 20.15 Uhr versucht hat, die für sie kaum zu überwindenden Treppen der Unterführung irgendwie zu meistern, was letztlich nur durch das Zerlegen des Kinderwagens und mit fremder Hilfe möglich war. Die Alternative für die Frau wäre gewesen, einen großen Umweg zu machen, um in der Dunkelheit zum Parkplatz des BH Inzing zu gelangen.

Das sind unhaltbare Zustände für Menschen mit Kleinkindern und Leute, die auf einen Rollstuhl oder andere Mobilitätshilfen angewiesen sind. Nun weiß ich natürlich, dass die ÖBB der eigentliche Ansprechpartner sind, aber Druck vonseiten der Gemeinde bzw. der Bevölkerung erscheint dringend erforderlich.

Apropos ÖBB: Die Erweiterung der Park & Ride-Fläche am BH Inzing wäre ein zusätzlicher Reklamationsgrund.

– Eine Gemeinde, die sich durch eine solche Dynamik auszeichnet wie Inzing, verdiente ein Veranstaltungszentrum (“Gemeindesaal”), das seinem Namen gerecht wird.

– Das Verschwinden bestimmter Dienstleister wie Metzger, bürgerliche Gasthäuser etc. Dass dies mit der generellen Umstrukturierung des Marktes und der damit verbundenen Konzentration auf Zentren von Großanbietern zusammenhängt, ist klar und in allen ländlichen Regionen feststellbar. Dennoch würden innovative, intelligente Angebot neben den zwei, drei gut etablierten gastronomischen Einrichtungen dem Dorf guttun.

Unterm Strich kann ich zufrieden bilanzierend behaupten, dass mir und meiner Familie Inzing in den vergangenen drei Jahrzehnten zur Heimat wurde. Kann man einer Dorfgemeinschaft ein schöneres Kompliment machen?

Leider wird der Begriff “Heimat” in letzter Zeit – provoziert durch bestimmte politische Gruppierungen – von manchen wieder oder noch immer sehr traditionalistisch, einengend und ausgrenzend verwendet. Für mich hört die Heimat nicht an der österreichischen oder der Tiroler Grenze und schon gar nicht an den Ortstafeln von Inzing auf. Ein hoher Wohlfühlfaktor hängt nicht von der geographischen Verortung ab, sondern ist vielmehr das Ergebnis eines gut etablierten und funktionierenden sozialen Netzwerks.

Aber jedes Mal, wenn ich von einem Auslandsaufenthalt zurückkomme, wird mir warm ums Herz, je näher ich meinem Wohnort komme.

So würde ich mich – wie schon in einem früheren Artikel in der DZ (Nr. 31, 2-1994, S. 8) – immer noch als “Inzinger aus Passion” bezeichnen, ohne jedoch – bei nüchterner Betrachtung – die negativen Facetten des Dorfes außer Acht zu lassen.

Bezugnehmend auf mein Eingangsstatement kann ich daher feststellen, dass von meiner euphorischen Grundstimmung auch nach drei Jahrzehnten noch viel übriggeblieben ist. Die generelle Vielfalt, die Offenheit vieler Menschen sowie die Nähe zum Naturraum einerseits und zum urbanen Raum andererseits machen Inzing für mich zu einem ganz besonderen Dorf.

Fotos (wenn nicht anders angegeben): Luis Strasser

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Luis Strasser

Als begeisterter Leser der Printausgabe der DZ hat sich Luis – zusammen mit einem kleinen Team – nach der drohenden Einstellung der Druckversion 2019 dafür eingesetzt, die DZ in irgendeiner Form zu erhalten. Das Resultat ist der nun vorliegende Blog, an dem als Redaktionsmitglied und Autor mitzuarbeiten ihm viel Freude bereitet. Seine Schwerpunktthemen: Politik, Bildung, gesellschaftlicher Wandel, Zeitgeschichte…

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