28. März 2024
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Die Horxschen Corona-Thesen auf dem Realitätsprüfstand

© Pixabay
Lesedauer ca. 6 Minuten

Viele haben von Corona-Berichten zurecht die Nase voll!!!

Dennoch halte ich es für ein interessantes Gedankenexperiment, die Zukunftsprognosen eines ausgewiesenen Fachmannes der eingetretenen bzw. subjektiv empfundenen Realität gegenüberzustellen.
Bereits im März 2020 (!) – wenige Tage nachdem SARS-CoV-2 in Österreich nachgewiesen wurde – entwarf der wohl einflussreichste Trend- und Zukunftsforscher im deutschsprachigen Raum, Matthias Horx (Gründer des Zukunftsinstituts – Frankfurt am Main/Wien / https://www.zukunftsinstitut.de), ein Prognoseszenario dazu, wie sich die Welt durch die anrollende Pandemie verändern werde (“Wie wir uns wundern werden, wenn die Krise ‘vorbei’ ist.”).
Die angewandte Methode nennt er Re-Gnose (in Kontrast zu einer Prognose). Dabei wird angenommen, man befände sich vorausblickend im Herbst 2020 und würde auf die Situation der beginnenden Corona-Pandemie zurückschauen.
(vgl. https://blog.dorfzeitung-inzing.at/?p=1302)

Ich möchte eine laienhafte Gegenüberstellung (die sich weder auf relevante Untersuchungen noch auf detaillierte Statistiken stützen kann) ausgewählter Horxscher Analyseergebnisse mit der heutigen Realität wagen.

Man muss Horx natürlich zugutehalten, dass er damals noch keine Ahnung von der aktuell so komplexen gesellschaftlichen Situation – gezeichnet von der Überlagerung multipler Krisen wie Kriege (der Plural ist beabsichtigt), Energieversorgung, Inflation, Corona, Klimawandel etc. –  haben konnte.

Die LeserInnen der DZ sind herzlich eingeladen, auch für sich einen Check zu machen, der die subjektiven Erfahrungen mit den Horxschen Prophezeiungen vergleicht, und das Ergebnis der DZ-Leserschaft via Kommentarschiene kundzutun.

HAT CORONA UNSERE GESELLSCHAFT VERÄNDERT?

HTh = Horxsche These / PersEB = Meine persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen

HTh 1: Wir werden uns wundern, dass die sozialen Verzichte, die wir leisten mussten, selten zu Vereinsamung führten. Im Gegenteil. Nach einer ersten Schockstarre führte viele von sich sogar erleichtert [fühlten sich viele sogar erleichtert], dass das viele Rennen, Reden, Kommunizieren auf Multikanälen plötzlich zu einem Halt kam. Verzichte müssen nicht unbedingt Verlust bedeuten, sondern können sogar neue Möglichkeitsräume eröffnen.

PersEB 1: Einerseits haben die meisten Menschen sehnsüchtig drauf gewartet, ihre sozialen Kontakte wieder so ausleben zu können wie früher.
Andererseits gibt es in diversen Medien immer wieder Beiträge, die Verzicht als Gewinn darstellen und die Leute dazu zu animieren versuchen.
Beispiele:
– Das neue Buch von Reinhold und Diane Messner: Sinnbilder: Verzicht als Inspiration für ein gelingendes Leben (2022, S. Fischer)

– Eine Bewegung, die unter dem Begriff “Digital Detox” firmiert und die die Beschränkung der Nutzung digitaler Medien zum persönlich Vorteil thematisiert. (https://de.wikipedia.org/wiki/Digital_Detox)
– Ein weitreichender Beitrag dazu, der das Thema auf einer globalen, sozioökonomischen Ebene betrachtet und für systemische Veränderungen plädiert: Jason Hickel: Less is More: How Degrowth Will Save the World (2021, Windmill Books) / respektive die dt. Ausgabe: Jason Hickel: Weniger ist mehr: Warum der Kapitalismus den Planeten zerstört und wir ohne Wachstum glücklicher sind (2022, oekom verlag GmbH)

HTh 2: Paradoxerweise erzeugte die körperliche Distanz, die der Virus erzwang, gleichzeitig neue Nähe. Wir haben Menschen kennengelernt, die wir sonst nie kennengelernt hätten. Wir haben alte Freunde wieder häufiger kontaktiert, Bindungen verstärkt, die lose und locker geworden waren. Familien, Nachbarn, Freunde, sind näher gerückt und haben bisweilen sogar verborgene Konflikte gelöst.

PersEB 2: Das mag sicher für die erste Phase der Pandemie stimmen, aber nachhaltig ist der Effekt keineswegs.

HTh 3: Die gesellschaftliche Höflichkeit, die wir vorher zunehmend vermissten, stieg an. Jetzt im Herbst 2020 herrscht bei Fußballspielen eine ganz andere Stimmung als im Frühjahr, als es jede Menge Massen-Wut-Pöbeleien gab… Zynismus, diese lässige Art, sich die Welt durch Abwertung vom Leibe zu halten, war plötzlich reichlich out.

PersEB 3: Dies ist keinesfalls nachvollziehbar. Eher ist das Gegenteil eingetreten.
Beispiele: Anti-Corona-Maßnahmen-/Anti-Impfdemonstrationen, der Umgangston in der Politik (mitbedingt durch einen global feststellbaren Rechtsruck). Vorfälle von Rassismus bzw. Ausschreitungen im Zusammenhang mit Fußballspielen sind leider nach wie vor an der Tagesordnung
wie beispielsweise neulich beim UEFA Europa League-Spiel SK Sturm Graz vs. Feyenoord Rotterdam (27.10.2022, Graz), bei dem es zu massiven Randalen der “Fans” kam (Körperverletzungen, eine Messerstecherei, Festnahmen, ein verwüstetes Stadion…)

HTh 4: Wir werden uns wundern, wie schnell sich plötzlich Kulturtechniken des Digitalen in der Praxis bewährten. Tele- und Videokonferenzen, gegen die sich die meisten Kollegen immer gewehrt hatten (der Business-Flieger war besser) stellten sich als durchaus praktikabel und produktiv heraus. Lehrer lernten eine Menge über Internet-Teaching. Das Homeoffice wurde für Viele zu einer Selbstverständlichkeit…

© Alexandra_Koch / Pixabay

PersEB 4: Das mag sicher zum Teil so sein. Allerdings kenne ich einige Menschen, die froh sind, dass sie entweder ganz oder zumindest zeitweise wieder physisch an ihrer Dienststelle anwesend sein können, und die die persönlichen Kontakte mit den KollegInnen sehr schätzen.

HTh 5: Reality Shows wirkten plötzlich grottenpeinlich. Der ganze Trivia-Trash, der unendliche Seelenmüll, der durch alle Kanäle strömte. Nein, er verschwand nicht völlig. Aber er verlor rasend an Wert…
Nebenbei erreichte auch die unendliche Flut grausamster Krimi-Serien ihren Tipping Point.

PersEB 5: Heftiger Widerspruch: Ein Blick in aktuelle TV-Programme und Streaming-Angebote lässt keine Reduktion von Trash-Beiträgen erkennen. Die Wendlers, Blancos, Savinas und Co. ziehen weiterhin in peinlichster Manier in den Dschungel oder in andere “Camps” ähnlicher “Güte”.
Und die Grausamkeit in Krimis ist keineswegs verschwunden. Als ein rezentes Beispiel hierfür sei der Tatort vom 16.10.2022 („Leben Tod Ekstase“) angeführt, in dem gerade Grausamkeiten und Skurrilitäten auf die Spitze getrieben wurden.  

HTh 6: Nicht so sehr die Technik, sondern die Veränderung sozialer Verhaltensformen war das Entscheidende. Dass Menschen trotz radikaler Einschränkungen solidarisch und konstruktiv bleiben konnten, gab den Ausschlag. Die human-soziale Intelligenz hat geholfen. Die vielgepriesene Künstliche Intelligenz, die ja bekanntlich alles lösen kann, hat dagegen in Sachen Corona nur begrenzt gewirkt.
Damit hat sich das Verhältnis zwischen Technologie und Kultur verschoben. Vor der Krise schien Technologie das Allheilmittel, Träger aller Utopien. Kein Mensch – oder nur noch wenige Hartgesottene – glauben heute noch an die große digitale Erlösung.
Der große Technik-Hype ist vorbei.
Wir richten unsere Aufmerksamkeiten wieder mehr auf die humanen Fragen: Was ist der Mensch? Was sind wir füreinander?
Wir staunen rückwärts, wieviel Humor und Mitmenschlichkeit in den Tagen des Virus tatsächlich entstanden ist.

© Gerd Altmann / Pixabay

PersEB 6: Das Horxsche Wort in Gottes Ohr!
Die Bedeutung respektive den prognostizierten Bedeutungsverlust von Technik bzw. Künstlicher Intelligenz kann ich schwer beurteilen. Dass wir allerdings unsere Aufmerksamkeit jetzt wieder mehr auf humane Fragen richten und Mitmenschlichkeit stärker unser Denken und Tun bestimmt, darf als verallgemeinernde Aussage stark bezweifelt werden.

HTh 7: Wir werden uns wundern, wie weit die Ökonomie schrumpfen konnte, ohne dass so etwas wie »Zusammenbruch« tatsächlich passierte, der vorher bei jeder noch so kleinen Steuererhöhung und jedem staatlichen Eingriff beschworen wurde. Obwohl es einen »schwarzen April« gab, einen tiefen Konjunktureinbruch und einen Börseneinbruch von 50 Prozent, obwohl viele Unternehmen pleitegingen, schrumpften oder in etwas völlig anderes mutierten, kam es nie zum Nullpunkt.

PersEB 7: Angesichts der enormen Staatsausgaben, die die Auswirkungen der Pandemie bekämpfen bzw. mildern sollten, ohne dass die Wirtschaft zusammenbricht, kann diese Vorhersage als erfüllt angesehen werden. Allerding gilt dies nur für die gut entwickelten Länder der Welt. Im globalen Süden schaut die Situation ganz anders aus.

HTh 8:  Heute im Herbst 2020, gibt es wieder eine Weltwirtschaft. Aber die Globale Just-in-Time-Produktion, mit riesigen verzweigten Wertschöpfungsketten, bei denen Millionen Einzelteile über den Planeten gekarrt werden, hat sich überlebt…Überall in den Produktionen und Service-Einrichtungen wachsen wieder Zwischenlager, Depots, Reserven. Ortsnahe Produktionen boomen, Netzwerke werden lokalisiert.
Das Global-System driftet in Richtung GloKALisierung: Lokalisierung des Globalen …
In der neuen Welt spielt Vermögen plötzlich nicht mehr die entscheidende Rolle. Wichtiger sind gute Nachbarn und ein blühender Gemüsegarten.

PersEB 8: Oh mein Gott – welche Prophezeiungen: Mir scheint, dass sich die “Just-in-Time-Produktion” mit den “verzweigten Wertschöpfungsketten” nicht “überlebt” hat, sondern sich geflissentlich neue Wege (im doppelten Wortsinn) sucht!!
Was stimmen mag, ist eine sich abzeichnende Tendenz, wonach immer mehr junge Menschen heute ihr Leben eher nach einer für ihr privates Umfeld günstigen Work-Life-Balance als an der Maximierung ihres Einkommens ausrichten.

HTh 9: Vielleicht werden wir uns sogar wundern, dass Trump im November abgewählt wird. Die AFD zeigt ernsthafte Zerfransens-Erscheinungen, weil eine bösartige, spaltende Politik nicht zu einer Corona-Welt passt. In der Corona-Krise wurde deutlich, dass diejenigen, die Menschen gegeneinander aufhetzen wollen, zu echten Zukunftsfragen nichts beizutragen haben. Wenn es ernst wird, wird das Destruktive deutlich, das im Populismus wohnt.
Politik in ihrem Ur-Sinne als Formung gesellschaftlicher Verantwortlichkeiten bekam
[in] dieser Krise eine neue Glaubwürdigkeit, eine neue Legitimität. Gerade weil sie »autoritär« handeln musste, schuf Politik Vertrauen ins Gesellschaftliche.

PersEB 9: In diesem Punkt erweist sich die eingetretene Wirklichkeit total konträr zur Vorhersage (außer, dass Tump abgewählt wurde): Aufhetzer und Populisten haben laut schreiend an Einfluss gewonnen. Und das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik hat einen Tiefststand erreicht (wofür in Österreich – und wohl auch anderswo – nicht nur die Pandemie verantwortlich ist)!

HTh 10: Auch die Wissenschaft hat in der Bewährungskrise eine erstaunliche Renaissance erlebt. Virologen und Epidemiologen wurden zu Medienstars…
Fake News hingegen verloren rapide an Marktwert. Auch Verschwörungstheorien wirkten plötzlich wie Ladenhüter.

© Heinz Schmitz auf Pixabay

PersEB 10: Im Gegenteil – immer mehr Menschen zeigen sich inzwischen auch der Wissenschaft (den “ExpertInnen”) gegenüber skeptisch. Und Fake News und Verschwörungsmythen feiern gar fröhliche Urständ (ein extremes Beispiel unter vielen: QAnon – inzwischen auch in Österreich angekommen).

Resümee:
Insgesamt klang das im März 2020 von Horx gezeichnete Zukunftsszenario ziemlich positiv. Dass viele Dinge anders gelaufen sind, ist aus heutiger Sicht evident (und im Nachhinein leicht feststellbar). Die Zukunftsforschung versucht, immer an aktuellen Veränderungen dranzubleiben und diese bei neuen Prognosen zu berücksichtigen. So vertrat Horx bei einem Vortrag in Telfs am 24.10.2022 die Meinung, dass angesichts der so vielschichtigen, gesellschaftspolitisch problematischen Gemengelage zu optimistisches Zukunftsdenken naiv, zu negatives destruktiv sei. Es gelte ganz allgemein, angstfrei die Möglichkeiten für die Zukunft auszuloten und etwaige, notwendige Veränderungen mutig anzugehen.
Und das ist ja eine vernünftige, akzeptable BOTSCHAFT!  

Tipp zum Weiterlesen: https://www.reflab.ch/post-corona-welt

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Luis Strasser

Als begeisterter Leser der Printausgabe der DZ hat sich Luis – zusammen mit einem kleinen Team – nach der drohenden Einstellung der Druckversion 2019 dafür eingesetzt, die DZ in irgendeiner Form zu erhalten. Das Resultat ist der nun vorliegende Blog, an dem als Redaktionsmitglied und Autor mitzuarbeiten ihm viel Freude bereitet. Seine Schwerpunktthemen: Politik, Bildung, gesellschaftlicher Wandel, Zeitgeschichte…

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2 Gedanken zu “Die Horxschen Corona-Thesen auf dem Realitätsprüfstand

  1. Danke für diese Gegenüberstellung. Ich erinnere mich vage, damals irgendwo Horx’ Thesen gelesen zu haben und mir schon damals dachte, dass das reichlich optimistische Prognosen waren. Wie sehr er mit seiner These 3 (Höflichkeit) und erst recht mit These 10 (Wissenschaftsglaube) daneben lag, hätte ich mir aber nie träumen lassen. Dieses Festhalten an oft völlig faktenbefreiten Denkgebäuden macht mir Angst und erinnert mich an Dinge, die ich über das Mittelalter und später über die Hexenverfolgungen gelesen habe.

  2. Von Anfang an klangen viele seiner Thesen viel mehr nach Wunschdenken als nach einer seriösen Prognose. Vermutlich wollte er eher Gedanken lenken als vorhersagen. Viel ist jedenfalls heute nicht real – im Gegenteil.
    Allerdings wurde das alles auch für den Herbst 2020 und nicht für 2022 vorhergesagt. Ich kann mich ehrlich gesagt nicht mehr daran erinnern wie die ganze Sache damals im Querschnitt betrachtet wurde.
    Wie du richtig anmerkst ist jedenfalls jetzt beinahe alles eher schlechter als besser geworden.
    Robert

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