7. April 2025
Newsletter   

Sternbild Orion

Lesedauer ca. 14 Minuten

Jede Nacht überspannt uns ein Zelt, aus dunklem Samt gewoben und von trilliarden Lichtern durchwirkt. Seit Urzeiten regt dieses kühle Funkeln unser Suchen und Fragen an. Wie in einem gigantischen Bilderbuch finden wir dort oben die Abbilder der Protagonisten aus Erzählungen, deren Autoren selbst längst zu Staub zerfallen sind. Ein jedes Sternbild hat seine Geschichte, ist konservierte Erzählkunst. Hier soll dazu eingeladen werden, einige dieser himmlischen Piktogramme zu entstauben und sich von ihnen auf eine Zeitreise durch menschliches Träumen leiten zu lassen.

Orion

Riesen – Sie scheinen in den Mythen, Legenden und Märchen der Menschheit beinahe omnipräsent zu sein. Wir glauben, ihre Gesichter und erstarrten Leiber in Bergen, Bäumen und Schneeformationen wiederzuerkennen. Ähnlich wie Drachen, stehen sie uns in ihren Geschichten zuweilen als Personifizierung von Naturkatastrophen und -phänomenen, übermächtigen Heerführern oder gleich ganzen Völkerscharen gegenüber.
Manche Riesen kennt hierzulande jedes Kind, wie den kolossalen Krieger der Philister, Goliath, dem sich der Hirtenjunge David mit einer Steinschleuder todesmutig entgegenstellt. Ein Stein, ein Treffer: Gekonnter Riesenmord wird dabei in der Bibel schon mal mit der Königswürde belohnt!
Von gefällten Riesen wussten sich allerdings auch unsere germanischen Ahnen viel zu erzählen: So erschlugen der Göttervater Odin (südgerm.: „Wodan“) und seine Brüder Wili und We den geistlosen Ur-Riesen Ymir, um aus dessen Leichenteilen die Welt zu formen. Das verrottende Fleisch wurde zur Erde, sein Blut zu den Ozeanen, die Knochen zu Bergen, die Zähne zu Steinen und das Haar zu Bäumen. Aus dem Schädeldach formten sie das Himmelsgewölbe und die Wolken sind Reste seines Hirns, die noch immer am Knochen kleben. Dieser “Himmel” wurde an seinen Kardinalspunkten von vier Zwergen gestützt: Nordri, Sudri, Austri und Westri. Noch heute sind sie namensgebend für unsere vier Himmelsrichtungen.


Nun ist die heutige Konstellation jedoch nach Orion benannt und da dieser aus Griechenland stammte, müssen wir die nebligen Urwäldern des Nordens hinter uns lassen um die heiter sonnige, salzige Südluft der Ägäis zu atmen – im metaphorischen Sinne.
Orion ist bestimmt der prominenteste, wenn auch bei weitem nicht der einzige Riese aus der Mythenwelt des mediterranen Altertums. Denn als Uranos, der Himmel, von seinem Sohn Kronos mit einer Feuersteinklinge entmannt wurde, troff das Blut aus der Wunde und befruchtete so Gaia, die Erde, die daraufhin die Giganten gebar. Diese waren aufgrund der Umstände ihrer Zeugung zornige, tumbe und gewalttätige Kreaturen. In grauen Vorzeiten lieferten sie sich einen Jahrtausende währenden Krieg mit den Göttern – die Gigantomachie. Erst mit der Hilfe eines Sterblichen, dem Halbgott Herakles, konnten die Olympioniken diesen Krieg endgültig für sich entscheiden.


Gelangen wir nun zu Orion, denn auch wenn man Gaia als seine Mutter nennen könnte, so war er dennoch kein Sohn des Uranos und zählte somit nicht zum alten Riesengeschlecht. Seine Herkunftsgeschichte führt uns nach Böotien, dem Land der Thebaner.
An einem der sanften, mit Zypressen, Pappeln und Tannen umwaldeten Berghängen über der Ortschaft Tanagra lag dort einst eine nunmehr längst zerfallene und vergessene Hütte. Sie bot einen malerischen Ausblick über die darunter liegende Ebene und wurde von einem eigenbrötlerischen Mann mit Namen Hyrieus, dem “Bienenmann” und seiner jungen Gattin Merope bewohnt. Man weiß von den älteren Göttergeschichten, dass, bevor der Wein erfunden wurde, die Unsterblichen sich gerne am Honig berauschten. Nach einer anderen Variante war Hyrieus ein König und/oder Sohn des Weingottes Dionysos, den man Oineus oder Oinopion rief. In dieser Version seines Namens wird wenig überraschend mit dem Wort “oinos” – Wein – gespielt. In beiden Fällen mag der Name aber wohl auch auf die besondere Gastfreundlichkeit des Mannes andeuten.


Eines lauen Sommerabends kamen unweit seiner Waldhütte drei Gestalten des Weges. Hyrieus sah sie schon von Weitem, wie sie gemächlich den schmalen Pfad erklommen der sich wie eine Kornnatter durch die ins Abendrot getauchten, golden glühenden Felsen des Waldhanges schlängelte.
Ihrer leichten Kleidung und den flachen, breitkrempigen Wanderhüten entnahm der Bienenmann, dass es wohl Reisende sein mussten – Vielleicht Pilger die eines der Bergheiligtümer in der Gegend zum Ziel hatten. Geduldig wartete Hyrieus ab, bis die Wandersleut’ in Hörweite gelangten um sie dann freundlich anzurufen: “Heda, reisendes Volk! Seht! Helios steht kurz davor, die schäumenden Rosse vom Wagen zu spannen und das Tagewerk seiner Reise bis zum Morgen ruhen zu lassen. Nehmt euch ein Beispiel daran und tut es ihm gleich! Nicht lange und sein Schwesterchen Selene, die Herrliche, wird sich übers Land erheben. Doch ist sie dieser Tage dürr und schmächtig, wenig hilft ihr Licht den Weg des Nachts zu leuchten. Schnell wird da den müden Füßen ein Wurzelstock zum Nackenbrecher. Kommt zu mir, ich will uns ein Feuerchen schüren und euch ein Lager bereiten! Das Wenige, das ich habe, will ich gern mit euch teilen. Nicht schläft es sich gut mit darbenden Mägen und dorrenden Kehlen!”
Dankbar nahmen die drei Fremden an und Hyrieus rief Merope herbei, aufdass sie ihm helfe, die Gäste zu bewirten. Warmes Brot und süße Honigwaben gaben sie ihnen zur Speis, eiskaltes Quellwasser und ein berauschendes Gebräu aus vergorenem Bienengold zum Trunk.
Heiter und ausgelassen wurde die Nacht. Einer der drei Wandernden, ein hübscher Jüngling mit ungezähmter Lockenpracht, spielte auf seinem Aulos, jauchzte und sang, scherzte und tanzte ausgelassen mit Merope ums Feuer.
Die beiden anderen, Herren mit starken, edlen Gesichtern und vollen Bärten, waren stiller, ernster. Weise schienen sie zu sein, denn sie erzählten viele Geschichten von den Sternen über ihnen und von der Erde unter ihnen.
Mit voranschreitender Nacht wurden die Gemüter allmählich schwer vom Honigtrunk und die Herzen hatten sich an der herrlichen Wehmut solcher Sommernächte vollgesogen, da warfen die Reisenden mit glasigen Augen noch Erzählungen von den Tagen vergangener Zeitalter in die Runde:
Vom Goldenen, als es den Tod und die Frauen unter den Menschen noch nicht gab und die Götter bei ihnen lebten.
Vom Silbernen, dass der mächtige Zeus in seinem Verdruss durch eine Sintflut ertränkte.
Und vom Bronzenen, dass sich durch seine Kriegswut selbst verzehrte.
Ein süßer Schlummer bemächtigte sich schließlich der still und nachdenklich gewordenen Gesellschaft. Mit sanfter, lockender und versöhnlicher Macht rief er sie allesamt zu Bett.
Als sich Hyrieus am nächsten Vormittag erst spät erhob, waren die drei Reisenden zu seinem Erstaunen immer noch da. Sie schienen sein Erwachen geduldig erwartet zu haben, denn sie taten nichts, außer ihm eine seltsame Frage zu stellen: “Wonach sehnt sich dein gütiges Herz, guter Bienenmann?”
Hyrieus, der bisher ein zufriedenes und angenehmes Leben geführt hatte, aber kinderlos war, zuckte schlicht mit den Achseln. Mehr aus Pflichtgefühl denn aus wahrem Ernst heraus antwortete er: “Ein prächtiger Sohn, glaub ich, wär mir ganz Recht.”
Einer der beiden Bärtigen, er schien unter ihnen das höchste Ansehen zu genießen, nickte brummend und verlangte von Hyrieus daraufhin einen Beutel aus Rindsleder. Verwundert reichte ihm Hyrieus nach kurzer Suche den einzigen, den er im Hause finden konnte.
Daraufhin taten die drei Wanderer etwas sehr Seltsames: Sie ließen den Beutel rundgehen und – nun, man kann es nicht anders deuten – masturbierten und ejakulierten in selbigen hinein. Anschließend verzurrten sie das Beutelchen und vergruben es sorgsam vor der Hütte, wie man ein Samenkorn vergräbt. Schließlich winkten sie dem verstörten Gastgeber noch wortlos zum Abschied und waren alsbald verschwunden.
Dem war abwechselnd heiß und kalt geworden. Am liebsten hätte er die drei Schufte angebrüllt, aufdass sie sich vom Acker machten und sich schämen sollten, einem solche Gastfreundlichkeit derart übel und frevlerisch zu vergelten! Doch er konnte nicht, denn eine plötzliche, geradezu erdrückende Furcht vor den Männern hatte ihn ergriffen und seinen Leib mit Lähmung überzogen.
Als sie nun gegangen waren, klagte er Merope diesen seinen Kummer, denn er fühlte sich nichtsdestotrotz verhöhnt und schändlich ausgenutzt.
Diese schalt ihn mit tadelndem Kopfschütteln. “Ach du alter Esel! Hast du denn rein gar nichts gemerkt? Dass uns Brot und Honigwein nicht ausgingen? Keinen Tropfen und keinen Krümel weniger haben wir heute als gestern noch! Götter, das sag ich dir, haben wir gestern noch das Stroh zur Bettstatt gerichtet! Nach Regen, Meerwasser und Weihrauch dufteten ihre Leiber, sag, mein alter Narr, siehst und riechst du denn nichts? Der lustige Jüngling, ach! Das war bestimmt Hermes, dem die Wanderschaft ja selbst sehr lieb ist! Mir wird jetzt noch ganz flau, wenn ich daran denke, dass ich mit ihm so ausgelassen tanzte! Und jener, mit dem Gesicht voll Sorgenfalten und Majestät – ich wage es kaum selbst zu glauben, dass unser Göttervater Zeus höchstselbst bei uns zu Gaste gewesen sein soll, gemeinsam mit seinem Bruder, den grimmig blickenden Erderschütterer Poseidon!”


Oh, wie gut hatte die scharfsinnige Merope ihre Gäste durchschaut, denn all dies traf tatsächlich zu! Wäre nur Hyrieus mit selbiger Achtsamkeit gesegnet gewesen, so hätte er sich vielleicht daran erinnert, niemals Geschenke von den Unsterblichen entgegenzunehmen!


Zehn Monate später wuchs aus dem Lederbeutel ganz wundersam ein Junge hervor. Die Erde gebar ihn, wie sie einen Baum gebiert. Und schön war dieser Knabe, so schön wie vielleicht nur die Götter Apollon oder Ares selbst!
Hyrieus kratzte sich am Kopf. Sein Wunsch ging also in Erfüllung – ein prächtiger Sohn war ihm aus dem Boden entwachsen.
Orion nannten sie ihn, nach einem Wortspiel, denn das griechische Wort für “Samen lassen” war urein.
Orion wuchs bald zu einem Hünen heran, der seine Zieheltern nach einem Jahrzehnt schon um fast das doppelte überragte. Und er wuchs immer weiter. Bald konnte er nicht mehr in der Hütte schlafen, denn er nahm den Eltern den Platz. Auch aß er so viel, dass sie nicht länger damit nachkamen, ihn zu sättigen ohne dabei selbst hungern zu müssen.
Also musste Orion fortan im Walde schlafen und begann auf das Flehen seines Vaters hin damit, selbst auf die Jagd zu gehen.
Und da er ein stattlicher Kerl war, der viel Nahrung brauchte, machten der Hunger und seine Größe, die er zu verbergen lernen musste, einen exzellenten Jäger aus ihm.
Bei einem seiner vielen, ausgedehnten Streifzüge durch die Wildnis Böotiens kam Orion eines brütend heißen Mittags an einen klaren Gebirgsbach. Am murmelnden Quell stillte er sich seinen brennenden Durst. Soeben schaufelte er sich mit seinen Pranken großzügig das kühle Wasser in den Nacken, als er einer Gruppe badender Nymphen gewahr wurde. Und Nymphen mussten es sein, denn bei Aphrodite! Keiner einfachen Sterblichen war solch eine gottgleiche Erscheinung vergönnt!
Ein Stück das Bachbett hinauf vergnügten sie sich nackt und lachend im Spiel. Sieben Mädchen waren es, Schwestern, von denen eine noch schöner wie die andere war. Nach ihrer Mutter, der Okeanide Pleione, wurden die sieben Nymphen Plejaden genannt und der Göttin Artemis waren sie Jagdgefährtinnen. Doch die silberne Zeustochter, von den Römern Diana genannt, war eine strenge Herrin. Von ihren Anhängerinnen – denn sie akzeptierte nur Frauen – mussten sich alle zeitlebens der Jungfräulichkeit verschreiben. Niemals dürften sie sich mit einem Manne einlassen. Und sollte doch eine ihre Jungfräulichkeit verlieren, unter welchen Umständen auch immer, so wurde sie mit dem Tode bestraft. Artemis kannte da kein Pardon. Denn sie verlangte von sich dasselbe Opfer.
Nun erblickte Orion die Schwesternschar: Orion, der Hüne. Orion, der Jäger. Orion, der ein wildes und menschenfremdes Leben führte.
Alles, was er von der Lust, die ihn nun mit heißen Händen an den Lenden fasste, kannte, war das Verhalten der Tiere. Nie hatte er einen Jungen ein Mädchen umwerben sehen, doch ungezählte Male beobachtete er den Rehbock, der mit schäumendem Maul grunzend und stöhnend der Geiß nachstieg. Solange, bis sie ihm nachgab. Wohl kam es Orion daher ganz natürlich vor, als er aus dem Gebüsch brach und auf die erschrockenen Frauen mit lodernden Blicken und heißerem Keuchen zustürmte – Ganz wie der Bock, der ihn gelehrt.
Nackt wie sie waren, ergriffen sie kreischend vor dem hochgewachsenen Jüngling die Flucht. Ihre hüpfenden Brüste, Zöpfe und Gesäße stachelten seine Gier dabei nur weiter an, gossen Öl ins rasende Feuer des Verlangens.
So lange und unerbittlich jagte Orion die Frauen, bis ihre verzweifelten Hilfeschreie Zeus erreichten, der Erbarmen mit ihnen hatte und sie prompt zu Tauben verwandelte. Als solche stiegen sie so hoch sie nur konnten, bis ans Himmelszelt, wo sie schließlich zu Sternen wurden, den Plejaden eben, dem Siebengestirn.


Enttäuscht über seinen Fehlschlag und mit dem verwirrten Geist eines Pubertätskranken, kehrte Orion nach Hause zu seinem Vater zurück. Monate lang hatte er sich nicht blicken lassen und nun bat er niedergeschlagen um dessen Rat. Doch Hyrieus, den die ganze Geschichte verstörte und der gehofft hatte, den unheimlichen Jungen losgeworden zu sein, schalt ihn nun und gab ihm, in einer Schimpftirade verpackt, den unbeholfenen Rat, dass eine Frau umworben und beeindruckt werden möchte und nicht bis zur Verzweiflung gejagt.
Orion nickte. Er verstehe, meinte er und ließ dabei seinen neu erwachten, hungernden Blick unangenehm lange auf Merope haften.
Am folgenden Tag machte er sich früh auf die Beine. Ohne Abschied brach er auf, die Insel Chios nahe der Küste Kleinasiens war sein Ziel. Dort angekommen wollte er Beeindruckendes vollbringen. Ganz wie Hyrieus es ihm geraten hatte. All sein Können als Jäger brachte er auf indem er in seiner Gefallsucht nicht weniger als die gesamte Tierwelt des Eilandes ausrottete.
Jetzt fiel der Jüngling auch Artemis auf, die diese sinnlose, gegen alle Vernunft gerichtete Tat des Orion zunächst erzürnte. Ein wahrer Jäger jagte nicht zum Vergnügen, er jagte nicht der Trophäen willen. Er jagte, weil er es musste, weil es seine Natur war. Er jagte, weil die Jagd uralt und daher heilig war.
Ein Leben, selbst das eines Tieres nicht, sollte niemals leichtfertig genommen werden.
Noch ratschlagte die erzürnte Göttin im Herzen, auf welche Weise sie den Riesen hinrichten wolle, doch je länger Artemis dem Orion dabei zusah, wie geschickt er doch vorging und wie herrlich seine Muskeln unter dem Schweiße glänzten, desto milder wurde ihr Gemüt, bis ihr voller Schrecken gewahr wurde, dass sie sich verliebt hatte. Sie, die Männerhassende. Sie, die sich ewige Enthaltsamkeit geschworen hatte.
Mit einem Sack voller Trophäen kehrte der erfolgreiche Jäger einige Zeit später unbescholten zurück zur Hütte seines Geburtsortes. Dort suchte er Merope auf, warf ihr seine Beute vor die Füße und brüstete sich seiner Taten.
Als seine entgeisterte Ziehmutter nicht wusste, wie sie darauf reagieren sollte und Orion ihre Verwirrung spürte, bemerkte er wie ihm sein Plan entglitt. Ungeschickt versuchte er daraufhin, Merope zum Sex zu überreden, doch diese lehnte entsetzt ab und flüchtete sich in die Hütte.
Orion war verwirrt, verletzt und ebenso zornig. Er hatte doch alles richtig gemacht! Wer unter den Lebenden könnte ihm eine solche Tat nachmachen, welche Frau wäre davon nicht beeindruckt?
Voller Frust machte er sich über die Honigweinvorräte seines Vaters her und soff alles bis zum letzten Tropfen leer.
Durch seine Trunkenheit nun noch aufgebrachter und dreister geworden, drang er anschließend in die Hütte ein, in die er gerade noch so hineinpasste und versuchte sich an Merope zu vergreifen. Es gelang ihr allerdings sich seinen nunmehr träge gewordenen, unkoordinierten Griffen zu entwinden. Eiligst floh sie hinaus um sich vor ihm im Wald zu verbergen.
Orion suchte nach ihr, rief lallende Entschuldigungen und wollte sich mit ihr aussöhnen, doch Merope verharrte zitternden und bis in die Knochen erschrocken in ihrem Unterschlupf. Schließlich gab der Jäger seine Suche auf. Erschöpft brach er zusammen und fiel in einen tiefen, traumlosen und rauschgeschwängerten Schlaf.
Zitternd vor Angst suchte Merope Hyrieus auf, der für einen Botengang nach Tanagra gegangen war und erst am Abend zurückkehrte.
Dieser, den allmählich eine grauenhafte Furcht vor seinem Ziehsohn ergriff, fasste sich noch in derselben Nacht ein Herz und seine Klinge um dem Geschenk der Götter die Augen auszustechen.


Geblendet durchwanderte Orion daraufhin jahrzehntelang hilflos das Land, bis sich Gaia selbst seiner erbarmte und ihm weissagte, dass nur göttliches Feuer ihm seine Sehkraft zurückgeben könne.
Ratlos, wo er zu solch göttlichem Feuer gelangen sollte sank Orion von aller Hoffnung verlassen in den Sand eines Strandes, wo Wellen und Tränen ihm gleichermaßen die Zehen mit Salz umspülten.
Dabei trugen die Seewinde entfernte Geräusche einer Schmiede an sein Gehör. Einer plötzlichen Eingebung gehorchend, hielt Orion in seinem Wehklagen inne und folgte dem Hämmern und Klirren durchs rauschende Meer. Mittlerweile war er so groß geworden, dass er jene Gewässer einfach durchwaten konnte. Selbst an den tiefsten Stellen ragte immer noch sein Kopf über den Wellen hervor. So trugen ihn seine Ohren an die Küsten der Insel Lemnos, wo in alten Zeiten die berühmte Werkstatt des Götterschmiedes Hephaistos lag.
Orion erklärte sich diesem und bat voller Aufregung um die Hilfe des Feuergottes. Hephaistos, der ein gutmütiges Wesen besaß, half gerne und experimentierte an seinem “Patienten” herum. Schließlich legte er ihm sogar zwei glühende Kohlen aus seiner Esse in die leer gewordenen Augenhöhlen, doch half es alles nichts – Orion blieb blind.
“Vielleicht”, meinte daraufhin Kedalion, der Lehrmeister Hephaistos’, “ist ja die Sonne gemeint!”
“Ja!”, rief Orion aus. “Ja! Das muss es sein!” Also griff sich der Riese ohne viel des Zögerns den Kedalion, setzte ihn sich auf die Schultern und hieß ihm, ihn den Weg ans Ende der Welt zu zeigen – nach Delos, wo die Sonne aufging.
Dieses Mal ging der Plan auf. Als Orions leere Augen von den Flammen der Sonnenscheibe berührt wurden, da füllten sie sich mit Licht und die Welt kehrte in all ihren Farben und Formen zu Orion zurück. Und mit ihr das Feuer der Rachsucht. Der Gequälte wollte seinen Peiniger Hyrieus dafür bestrafen, was er ihm angetan hatte. Von neuer Sehkraft erfüllt und doch erneut von Blindheit getrieben, brach er wütend auf, um Hyrieus einen letzten Besuch abzustatten.
Während all der Zeit hatte Artemis niemals aufgehört, für den Riesen zu schwärmen. Sehrwohl hatte sie den Leidensweg ihres Angebeteten verfolgt, doch sie fürchtete, ihr Verlangen nach ihm nicht länger zurückhalten zu können, gäbe sie nur einmal nach und greife in das Schicksal des Orion ein.
Schmachtend und mit schwerem Herzen betrachtete sie ihn daher seufzend und heimlich weinend stets aus sicherer Entfernung. Denn ihr Gelübde zur Jungfräulichkeit wollte sie nicht brechen. Mit eiserner Sturheit strafte sie sich selbst.
Apollon, ihr Zwillingsbruder, trug es schwer. Er, dem das Liebesleben selbst stets jammerte, mochte es nicht mit ansehen, wie seine Schwester unter ihm nicht unbekannten Schmerzen litt. Erst hatte er daher noch Mitgefühl, doch mit der Zeit wurde es ihm immer lästiger. Von nichts anderem redete seine Schwester mehr, als von ihrem Unglück und dem ihres Orions. Das schlimmste daran: Für die Sorgen ihres Bruders hatte sie gar kein Gehör mehr. Und niemand sonst hatte je Lust, sich sein Klagen anzuhören. Eifersucht ergriff Besitz vom eitlen Apoll, Eifersucht über all die Aufmerksamkeit die er nun nicht mehr bekam und die stattdessen einem geschenkt wurde, dessen vermaledeiten Namen er schon längst nicht mehr hören konnte.
Als Apollon nun sah, wie Orion bei seiner Rückkehr vom Rande der Welt das Meer durchschritt und gerade eben nur sein Kopf über den Wellen hervorragte, da kam ihm eine Idee. Artemis war gerade anderweitig beschäftigt gewesen: Zeus hatte einer ihrer Anhängerinnen verführt und ihr ein Kind gemacht. Weil die menschenverschlingende Göttin der armen Kallisto nicht gönnte wonach sie sich selbst so sehr sehnte und weil diese eben jenes heilige Gelübde zur Jungfräulichkeit gebrochen hatte, musste das Mädchen sterben. Dass Zeus sich dabei einer List bedient hatte und die Ahnungslose nicht wusste, was sie tat, war Artemis dabei egal. Zeus hatte in seinem Leichtsinn Kallisto obendrein in eine Bärin verwandelt um sie vor ihr, Artemis, der Göttin der Jagd zu verbergen!
Gerade kehrte sie zurück von der erfolgreichen “Bärenjagd”. Mit blutverschmiertem und vor Zorn noch bleichem Gesicht. Apollon erkannte die Gunst der Stunde. Scheinbar tröstend zog er sie zur Seite und deutete mit zugekniffenen Augen aufs Meer hinaus.
“Ach, vergiss all der Liebe und des Lebens Leid, mein süßes Schwesterchen! Schau! Siehst du den fernen Punkt dort am Horizont? Ich sage, lass ihn uns zum Wettstreit verführen und unsere sorgenkranken Gedanken verjagen! Es ist gewiss irgendein Fels, den es nun, bestimme ich, zu treffen gilt! Der Sieger beweist zwischen uns ein für alle Mal das bessere Schützengeschick!” Artemis, dankbar um die Zerstreuung, willigte ein. Auf solche Distanz konnte sie nicht sehen, um was es sich bei dieser Zielscheibe wirklich handelte. Die Jagdgöttin mit dem unfehlbaren Bogen spannte grimmig lächelnd die Sehne, zielte und schoss. Vor ihrem inneren Auge beschwor sie dabei noch einmal das Bild der verhassten Kallisto. Das Geschoss sprang von der Sehne, mit zornesgeborener Präzision teilte der Pfeil pfeifend die Luft, überholte alle Winde und bohrte sich tief ins Ziel.
Noch riss Orion jäh einen Arm hoch, die Hand ziellos ins Leere sich krallend, als in einem kurzen Augenblick die Welt vor Schmerz in tausend gleisende Lichtpunkte zerbarst. Dann, einen leichten Seufzer auf den Lippen, sank Orion mit gelösten Knien zum Meeresgrund hinab. Erneut umnachtete ihn die Dunkelheit. Doch dieses Mal sollte es kein Zurück aus ihr geben.
Als Artemis sich schon über ihren Treffer freuen wollte, doch ihr Ziel sich plötzlich aufbäumend in die Wogen senkte, da ahnte sie bereits was geschehen war. Panisch stürmte sie an die Stelle des Unglücks, eine blutige Wolke färbte dort den Meeresschaum.
Ein dumpfer, zerrender Schmerz durchstach ihr den Magen, mit den Händen zerriss sie sich ihre Kleider und zerkratzte sich die Brüste, heulend wie ein wildes Tier ihre Pein in die unverschämt heitere Morgenluft kreischend.
Mit bebenden Gliedern barg sie den schlaffen Leib des Getöteten, hob ihn aus dem Bauch der See. Einen wütenden Schrei ausstoßend riss sie ihren Pfeil aus dessen Wunde und schleuderte ihn unter wüsten Verwünschungen fort. Dann trug sie, den gesamten Weg stumme Tränen vergießend, Orions Körper zu den Sternen hinauf und übergab ihn in seiner ganzen Schönheit der Ewigkeit.


So findet man ihn noch heute, wo er wieder, als wäre er wie einst ganz voller Leben, den Plejaden am Himmel hinterherjagt, ohne sie jemals einholen zu können.


© Shutterstock

INFOBOX:

Nicht nur die Plejaden und der Stier (denn bei den Sumerern galt Orion als das himmlische Ebenbild des König Gilgamesch), auch das Tierkreiszeichen Skorpion steht in einer engeren Verbindung zu ihm. Nach einer anderen Erzählung wurde diese Arachnoide von einer erzürnten Artemis gegen Orion ausgesandt, um ihn tödlich zu stechen. Er hatte sich seines Jagdgeschickes allzu sehr gebrüstet und dabei Hybris – Hochmut begangen. Eine Sünde, die den Sterblichen nicht zustand und stets ins Verderben führte. Anschließend wurden beide an den Himmel versetzt. Wenn der Skorpion im Sommer am Himmel erscheint, dann verschwindet Orion, damit sich beide Kontrahenten nie mehr sehen müssen.
Auch Eos, die Göttin der Morgenröte und bei den Römern Aurora genannt, gilt als eine Liebhaberin des Orion. In manchen Morgenstunden noch schließt sie ihn sichtbar in ihre Arme, fest an sich drückend.
Eos war berüchtigt dafür schöne, junge Männer zu verführen und als sie sich des Orion annahm, wurde Artemis nach jener Version so eifersüchtig, dass sie ihn mit voller Absicht erschoss.
Wenn Orion das Meer durchwatet und nur sein Kopf sichtbar ist, so spielt auch das auf eine Stellung der himmlischen Konstellation an, von der zu manchen Zeiten auch nur der “Kopf” über den Horizont ragt. Nach anderen Geschichten konnte Orion sogar über das Wasser laufen. Eine Fähigkeit, die ihm sein Vater Poseidon vererbt hatte.
Jüngst genoss das Sternbild auch einige mediale Aufmerksamkeit, als der rechte (vom irdischen Betrachter aus gesehen linke) Schulterstern “Betelgeuse” kurzzeitig drastisch an Helligkeit verlor. War er zuvor noch unter den zehn hellsten Sternen am Himmel, rutschte er zwischenzeitlich auf Platz 21. Es wird daher vermutet, dass der Riesenstern kurz vor seiner Explosion zur Supernova steht. Wobei “kurz” einen Zeitraum von etwa 1000 Jahren umfasst. Die dabei entstehende Leuchtkraft der Detonation wird von der Erde aus sichtbar sein und mit derselben Strahlkraft des Vollmondes den Himmel erhellen.
Für alle, die sich nun selbst gerne auf die Suche nach den Sternbildern machen möchten, empfehle ich die App “Star Walk 2” für Smartphones und Tablets, oder eine klassische, drehbare Sternenkarte aus Karton. Ansonsten kann man auch über folgenden Link völlig kostenfrei über den Himmel navigieren!

https://www.astronomie.de/der-himmel-aktuell/?no_cache=1

Foto: Vito Technology Inc.

Diesen Artikel teilen:

Pascal Takes

Pascal trat dem Team im November 2019 bei. In Inzing ist er außerdem Mitglied des Kulturvereins und Mitarbeiter in den Kinder- und Jugendbetreuungseinrichtungen. Besonders interessiert er sich für Sprachen, Evolutions- und Kulturgeschichte. Eine Welt ohne Halbwissen wäre Pascal's Überzeugung nach einer Welt ohne Hass. Im Dienste dieser Überzeugung versucht er wirksam sein.

Alle Beiträge ansehen von Pascal Takes →

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert