3. Mai 2024
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Lernen S’ a bisserl Geschichte!

Lesedauer ca. 4 Minuten

Dieser Satz, den Bundeskanzler Kreisky (Regierungschef von 1970-1983) einem plump oberflächlichen Journalisten entgegengeschleudert hatte, hat mich zutiefst beeindruckt. Nicht zuletzt als Geschichtelehrer, mit besonderem Interesse für den wiederkehrenden Kreislauf der Staatsverfassungen und die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Auch angetrieben von den unterschiedlichsten Erfahrungen, die meine Familien in der Zeit des Nationalsozialismus gemacht hatten. Der Bruder meines Großvaters mütterlicherseits war nach einem Arbeitsunfall behindert und wurde von den Nazis grausam umgebracht. Meine Großeltern übten darob ideenreich aber auch lebensgefährlich passiven Widerstand gegen das menschenverachtende Regime. Sie überlebten mit viel Glück. Die Familie meines Vaters erlebte in der Zwischenkriegszeit bittere Not. Mein Großvater  verstarb nach einem fremdverschuldeten Arbeitsunfall und hinterließ Ehefrau und drei Kinder, die sich vorerst wehren mussten, samt Haus, Hof und Feld willkürlich auf andere Bauernfamilien aufgeteilt zu werden. In vielen Gesprächen mit meinem Vater öffnete er zunehmend die Erinnerungen an diese Zeit – vor allem an die schrecklichen Erfahrungen, die er, nachdem er mit 16 Jahren in den Krieg eingezogen worden war,  an der Westfront, Ostfront und zuletzt Südfront traumatisierend erleben musste. „Ja, am Anfang war ich begeistert von den neuen Machthabern, aber bald musste ich enttäuscht miterleben, in welche Schrecklichkeiten sie uns und andere getrieben haben.“ Wer meinen Vater gekannt hatte (+2014) weiß um seine Güte und Friedfertigkeit. Er war ein leidenschaftlicher Pazifist und ein kritischer Beobachter politischer Entwicklungen. Anlässlich des Gedenkjahres 1988 schrieben wir gemeinsam für den „Tiroler Chronist“ seine Erinnerungen nieder. Ich möchte sie hier in Ausschnitten wiedergeben:

„Unser Vater war als Soldat des Ersten Weltkrieges nach 4 Jahren sibirischer Gefangenschaft heimgekommen. Als schwer kranker Mann versuchte er – uns mit der kaum lebensfähigen Landwirtschaft und Gelegenheitsarbeiten – ein menschenwürdiges Dasein zu schaffen. Ich war erst 7 Jahre alt als mein Vater an den Folgen eines schweren Unfalls verstarb. So stand meine Familie plötzlich ohne Ernährer da. In unserem Haus herrschte große Not. Oft war Schmalhans Küchenmeister. Meist kamen nur Kartoffel, Türkenwirler, Muas und Brennsuppen auf den Tisch. Die Erzeugnisse unseres kleinen Hofes, wie Fleisch, Milch, Butter und Eier musste unsere Mutter größtenteils verkaufen, um Bekleidung, Schuhe und sonst lebensnotwendige Dinge zu besorgen. An allfällige Reparaturen im Haus war nicht zu denken. Es war ein geringer Trost, dass es in vielen Arbeiterfamilien, in denen der Vater arbeitslos war, noch schlechter bestellt war. Wir teilten deshalb oft mit deren Kindern das schmale Jausenbrot. Die  Ursachen und Umstände dieser Not zu verstehen, dafür war ich damals noch viel zu jung. Als dann deutsche Truppen im März 1938 in Österreich einmarschierten, war ich als Elfjähriger von den Ereignissen, wie die meisten meiner Jugendfreunde und Mitschüler, hellauf begeistert. Zwei kleine Hakenkreuzfahnen, die mir ein deutscher Soldat geschenkt hatte, streckte ich zum Entsetzen meiner Mutter hinters Kreuz im Herrgottswinkel. In ihren Augen ein Entweihung. Die Tage der „Befreiung“ waren für mich ein großes Erlebnis. Wir hatten schulfrei und konnten alle Geschehnisse im Dorf hautnah miterleben. Von allen Häusern wehten Hakenkreuzfahnen. SA marschierte auf, unsere Musikkapelle musste laufend zu den vielen Feiern und Aufmärschen ausrücken. Auch die Kirchenglocken mussten zur Verherrlichung dieses großen politischen Ereignisses beitragen. Mit viel Propaganda wurde der Bevölkerung in diesen Tagen geradezu der „Himmel auf Erden“ versprochen. Als dann gar an den Gulaschkanonen der Deutschen Wehrmacht Essen ausgegeben wurde, machte das Eindruck und viele Menschen eilten in diesen Tagen und Wochen mit fliegenden Fahnen in die Arme des Nationalsozialismus. Vor allem die Jugend fiel dem pausenlosen Trommelfeuer politischer Propaganda ahnungslos zum Opfer. Von dieser Welle der Begeisterung wurde auch ich mitgerissen; sehr zum Leidwesen meiner Mutter. Trotzdem nahm ich wahr, dass sich viele Dorfbewohner von diesem Geschehnissen fernhielten.

Beide Bilder: Tiroler Chronist 1988

Dass man in diesen Tagen auch den Bürgermeister und Pfarrer verhaftet hatte, erfuhr ich erst dann, als diese schon wieder freigelassen wurden. Über die politischen Hintergründe des Anschlusses wusste ich nichts. Der geschickten Propaganda des Nationalsozialismus konnte ein Großteil der Bevölkerung, insbesondere die Verarmten und Arbeitslosen, kaum widerstehen. Der Volkskanzler Adolf Hitler wurde geradezu wie ein „Messias“ verehrt. In der nordseitig gelegenen Küche unseres Hauses gab es ein kleines Fenster, dessen Stock bereits angefault und morsch war. Im Winter zog es durch alle Ritzen und eine dicke Eisschicht bildete sich. Als der Partei dies bekannt wurde, tauchten zwei Männer auf und schenkten uns einen neuen Fensterstock. Während mich diese soziale Tat der NSDAP beeindruckte, blieb meine Mutter bei ihrem Misstrauen, was zwischen ihr und mir zu Streit führte. Im Sommer 1941 war meine  Schulzeit beendet. Gerne wäre ich weiterhin in die Schule gegangen. Als Vierzehnjähriger musste ich aber in die Ziegelfabrik und später in den Rüstungsbetrieb im Dorf, um meiner Familie endlich Geld ins Haus bringen zu können. Anfang Jänner 1944 wurde ich eingezogen. Im Invasionsgebiet der Normandie wurde unsere Abteilung fast zur Gänze aufgerieben. Die schrecklichen Bilder meiner tödlich verletzten Kameraden und Freunde werde ich nie vergessen. Hier erlitt meine jugendliche Begeisterung für den „Führer“ den großen und endgültigen Knacks. Danach wurden wir an die Ostfront verlegt; wiederum später zum Partisanenkrieg nach Slowenien. Das Kriegsende erlebte ich in Westungarn. Der lange Fußweg nach Tirol bescherte mir viel Angst vor Verhaftung und Gefangenschaft –  aber auch die Erfahrung großer Gastfreundschaft. Unzählige Familien haben mir und meinen Kameraden Unterschlupf und Essen geschenkt. Zeit meines Lebens durfte ich gemeinsam mit meiner Frau die Kultur der Gastlichkeit aufrecht erhalten –  auch als Dank für das Überleben. Meine anfängliche, ja naive Begeisterung für das Hitlerregime, mit allen leeren und verlogenen Versprechungen, verwandelte sich in Abscheu und in die Hoffnung, dass nachfolgende Generationen nicht wiederum den politischen Maulhelden nachrennen.“

Die Gespräche mit meinem Vater waren intensive Erfahrungen und verstärkten meine Ablehnung totalitärer, faschistoider, rechtspopulistischer und radikaler Agitatoren. Meinem Vater war es wichtig, mit mir Gedenkstätten aufzusuchen. Die Besuche in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald waren wichtige Stationen der inneren Aufarbeitung. An seinem Todestag durfte ich – wohl ganz in seinem Sinne – eine Mahnrede bei der Einweihung der Gedenkstätte für meinen in Schloß Hartheim umgebrachten Großonkel halten. Parallel fand am gleichen Ort eine sogenannte Heldengedenkfeier für die toten Soldaten der Weltkriege statt. Ich konnte mich nicht zurückhalten. Zum Entsetzen der anwesenden Vereine gab ich es lautstark von mir: „ Sie wollten keine Helden sein. Sie wollten leben, überleben, sie wollten heim zu ihren Familien, wollten Frieden. Keine Ideologie ist es wert, dass nur ein Menschenleben dafür geopfert wird.!“ Der kritische Blick in die  Geschichte, auch in jene der sogenannten Freiheitskämpfe Tirols und vor allem in die aktuellen Entwicklungen in Österreich und der Welt sind Gebot der Stunde. Wenn ein hochrangiger Militär ohne große Widerrede davon spricht, dass Österreich wieder „kriegsfähig“ werden muss und Nato-Generäle sich auf einen langen Krieg gegen Russland vorbereiten wollen, dann  werden wir alle „verdonnert“ werden müssen, Geschichte zu lernen.

Georg Schärmer

„Ich bewahre Unruhe“

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Georg Schärmer

Geboren am 14. März 1956. Jahrelanger Leiter sozialer Einrichtungen und Bildungsstätten; zuletzt Direktor Caritas Tirol und Vizepräsident Caritas Österreich. Vorstandsmitglied von Pflegeeinrichtungen im In- und Ausland. Autor mehrerer Bücher, Publikationen und Herausgeber von Kulturformaten. Besondere Interessen: Musik, Literatur, Architektur und Sozialraumentwicklung. „Ziel des Schreiben ist es, andere sehen zu machen“ (Joseph Conrad)

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