Als der Morgen hereinbrach, waren die sengend heißen Temperaturen und die windlos drückende Schwüle des bevorstehenden Tages bereits zu spüren. Später in der sirrenden Vormittagshitze betrat ich nach einem Spaziergang den teilrenovierten Bau durch das Hauptportal. Die angenehm kühle Vorhalle tauchte mit der ins Schloss fallenden Türe meine Augen in schattiges Dämmergrau. Doch schon hinter dem schmiedeeisernen Gitter flutete die Sonne schimmernd den Hauptraum. Es schien, als hüllten die helllichten Sonnenstrahlen, ausgehend von den farbig prächtigen Deckengemälden, das gesamte Kirchenschiff in einen herrlich geschwungenen Glanz. Die hohen durchsichtigen Butzenscheibenfenster und nicht zuletzt die darüber schwebenden dreiteiligen Lünettenfenster des von Ost nach West verlaufenden Bauwerkes ließen das Kircheninnere der Pfarrkirche Inzing geradezu erstrahlen. Den Blick neugierig auf den frisch renovierten Bereich der ersten und zweiten Kuppel und den Seitenwänden darunter gerichtet, entdeckte ich Pracht und Prunk, der mir augenblicklich ein Lächeln entlockte. Mein Herz sprang freudig in die Höhe. Die glänzenden, farbigen Statuen, die Kuppelfresken und Grisaillen leuchteten lebendig, der Stuck drängte sich flatternd ins Auge und die Goldverzierungen wirkten wie erhabene kleine Krönchen.
Unter dem Triumphbogen blieb ich stehen und konnte mich nicht satt sehen an seiner durch Farbe und Goldglanz wiedergewonnenen Leichtigkeit und Harmonie.
Alles, was ich sah und fühlte, was meinem Herzen Unbeschwertheit und meinen Augen Weite verlieh, erzählte vom künstlerischen Triumph barocken Lobpreises zu Ehren Gottes. Alles sprach von “Mut, Opfergeist und Ausdauer für [ein] großes und schönes Werk”[1] – ein gemeinschaftliches Werk, das uns zur Auseinandersetzung herausfordert. Ein Werk, das alle Facetten des Lebens widerspiegelt und in seiner gesamten Bandbreite von Ernsthaftigkeit und Freude der Verzagtheit entgegenspricht. Ein Werk, das laut ausruft: “Der ewigreiche Gott, woll uns in unserm Leben ein immer fröhlich Herz und edlen Frieden geben.”[2] Als ich nun mitten im “Herzwerk“, dem Altarraum, stand, schloss ich die Augen und spürte den Atem der Geschichte. Ich hörte das Hämmern der Steinmetze, das Quietschen von Seilwinden, atmete den Staub behauener Steine und die Feuchtigkeit des Mörtels ein. “Wie anspruchsvoll die Errichtung eines solchen Gebäudes gewesen sein muss; in einer Zeit, in der Bauen noch nicht so technologisch war wie heute.”, dachte ich mir. Beim Betrachten des Gewölbes fiel mir fast unweigerlich Ken Follets Bestseller »Die Säulen der Erde« ein. Ein Hauptstrang des Buches beschreibt, wie ein Prior namens Philip, zusammen mit dem Baumeister Tom Builder – allen Widrigkeiten zum Trotz – schließlich und endlich doch Erbauer der Säulen der Erde, einer Kathedrale, wird.
Mag in Inzing auch “nur” eine Dorfkirche stehen, es macht keinen Unterschied. ie werden gebraucht, die weitsichtigen, sturen Prior Philips und Tom Builders, die aus vernachlässigten Bauwerken wieder Schmuckstücke, würdevolle sakrale Innenräume machen.
Sie werden gebraucht, die geerdeten Menschen, die an den gesellschaftlichen Wert des »Zum Lobpreis Gottes« glauben, weil darin ein Stück Heimat liegt; Sie werden gebraucht, die Menschen, die an dieser baulichen und geistigen Beständigkeit festhalten, weil in der Kunst, die Jahrhunderte überdauert hat, eine Antwort Gottes wohnt, die dem Herzen Zuflucht schenkt; Sie werden gebraucht die mutigen Menschen, die uns lehren, dass ein sich selbst überlassener Kirchenraum keinen Halt geben kann: “Die Besucher dieser Kirche sollten eigentlich Ehrfurcht empfinden vor der Majestät des Allmächtigen. (…) Beim Anblick dieser [vernachlässigten] Kirche hielten sie den Herrn wahrscheinlich für eine nachlässige, gleichgültige Gottheit, die nicht imstande war (…) die Verehrung, die sie ihm entgegenbrachten zu würdigen.”[3]
»Ehrfurcht« bezeichnet hier, sicher auch im Sinne Follets, völlig zurecht eine Empfindung fernab jeglicher Banalität. Der Begriff »Ehrfurcht« spricht nicht über Furcht vor etwas, sondern lässt Kunst und Lobpreis des sakralen Raumes als Reichtum für sich stehen; Ein Reichtum, der nach Romano Guardini nicht besessen wird, sondern in Anmut und Schönheit der Inbegriff dafür ist, wozu Menschen geistig und künstlerisch in der Lage sind. Das, was Menschen an künstlerischer Schönheit können, steht für etwas Bleibendes. Und da ist es egal, ob man sich in der sixtinischen Kapelle befindet oder in der Inzinger Dorfkirche.
Zunächst ist hierbei der Begriff »Dorfkirche« näher zu beleuchten. “Dorfkirche ist [interessanterweise] die kunstgeschichtliche und volkskundliche Bezeichnung für das Kultgebäude einer dörflichen Gemeinde; (…) Entscheidend für die Begriffsbestimmung der Kunstgeschichte und der Volkskunde ist nicht der Rang der Kirche (Pfarr-, Mutter- oder Filialkirche, Kapelle), sondern die Gestaltung aus dem Wesen dörflicher Lebensweise.”[4] Aus der dörflichen Inzinger Kultur ist die dem heiligen Peter geweihte Kirche nicht wegzudenken. Auch in unseren rasanten Zeiten von Kirchenferne und -austritten, ist das Pfarrleben in Inzing eine prägende Konstante. Die Pfarre ist als Basis zudem nahbarer, gestaltbarer, erneuerbarer, greif- und sichtbarer als das, was allgemeinhin als “die Kirche” bezeichnet wird. Es ist eine Konstante, die sich nicht ausschließlich auf Lebensereignisse wie Taufe bis Beerdigung beschränkt.
Auch über das Jahr begleitet und bereichert kirchliches Leben nicht nur mit sonntäglichem Glockengeläut die dörfliche Lebensweise. Vor allem Hochfeste und Prozessionen gestalten Kirche und Dorf auf besondere Art.
Die jüngste Beteiligung von Vereinen und Einzelpersonen an Prozessionen, hochfestlichen Riten und Veranstaltungen, spricht dabei für sich und nicht dafür, dass wir es mit einer aussterbenden Leidenschaft grenzdebiler Ureinwohner zu tun hätten. Wenn an Fronleichnam Altäre aufgebaut, Blumenteppiche bereitet, die Straßen mit Birkenbäumchen und die Häuser mit Fahnen geschmückt werden, bleibt in dieser festlich geprägten Lebensweise Religiosität nicht im Büßergewand stecken, sondern lässt mit der Freude über das Leben die Kirche sprichwörtlich mitten im Dorf. Aktionen wie Sternsinger und Nikolaus tragen diese Freude ins Dorf hinein; ebenso den Auftrag zum Zusammenhalt in der dörflichen und globalen Gesellschaft. Hier sprechen die Zuwendungen für sich: Allein die freiwilligen Spenden der Nikolausbesuche belaufen sich im Schnitt auf 1.260.- Euro und werden örtlichen Hilfsvereinen oder bedürftigen Personen übergeben. In diesem gemeinschaftlich-gesellschaftlichen Miteinander wird Inzinger Dorfkirchenkultur sicht- und greifbar. Der Raum, damit ist nun auch ganz im Besonderen das Bauwerk Kirche gemeint, steht und fällt wortwörtlich mit dem Wir. Kirche ist der Ort, an dem wir als dörfliche Gemeinschaft mit- und füreinander tätig sind. Ein Ort, mitten im Dorf, der sinnstiftend durch Kunst und sakrale Gestaltung von der Gemeinschaft erhalten wird. Ein Raum, der für sich steht und für den Gedanken, gerade in Zeiten wie diesen, sein Herz vom Dunkel ins Licht hin zur Schönheit zu navigieren.
Somit ist auch und vor allem eine Dorfkirche kein profaner, simpler Platzhalter, der hohl und tumb als Mahnmal überholter Strukturen und überkommener Dogmen im Dorfinneren als Ärgernis rumsteht: Weil wir hier von einem Raum sprechen, in dem Leichtigkeit der Schönheit folgt, in dem die Freude darüber die Seele an etwas Höheres bindet und dem Menschen eine uralte Zuversicht schenkt. In diesem Fingerzeig Gottes steckt ein ganzes Leben und noch mehr. In diesem Bauwerk steckt der dringlichste Wunsch nach Überleben, eine Unbändigkeit des Lebenswillens, als sei man in einer Herzkammer. Dieser Jahrhunderte überdauernde Bau, allem Unbill zum Trotz, steht dafür, was Menschen in der Lage sind zu erschaffen, was sie vermögen, wenn sie sich auseinandersetzen, zuhören und frei antworten können. Wir sprechen hier also auch von einem Raum, der nicht zwingend gemeinschaftlich ist, sondern von einer Zuflucht, die uns von Allzumenschlichem entfernt, die uns dadurch ein bisschen voreinander retten kann, uns zurückwirft auf uns selbst und unsere Verbindung zu Gott. Ein Raum, der minimiert auf den Bedarf, den wir tatsächlich zu decken haben. Wenn wir in dieser Hinsicht über Bedarf reden, müssen wir auch über das tiefe Bedürfnis nach Erkannt werden, nach Resonanz sprechen. Ein Kirchengebäude steht per se für Resonanz vor allem, wenn wir an sakrale Musik denken.
In diesem Zusammenhang den Kirchenraum gleichsam als Verstärker der Lebensmelodie, als Verstärker der Resonanz zwischen Mensch und Gott umzudeuten, ist nicht schwer.
Der moderne Mensch so formuliert es der Soziologe Hartmut Rosa sei mehr denn je angewiesen auf göttliche Resonanz, weil er im allgemeinen Lebensprozess hinsichtlich Wert und Moral desillusioniert und von sich selbst entfremdet wird. Schon im Vorwort von Hartmut Rosas Buch »Demokratie braucht Religion«, greift das politische Urgestein der Linken Gregor Gysi dieser These des Soziologen vor, indem er schreibt: “Und es sind eben zur Zeit nur die Religionen wirklich in der Lage, grundlegende Moral- und Wertvorstellungen allgemeinverbindlich in der Gesellschaft prägen zu können (…) Man kann (…) eben auch nicht umhin, dass sehr viele Menschen in den Kirchen Moral- und Wertvorstellungen wie die Achtung der Menschenwürde, Solidarität, Barmherzigkeit durch ihr tägliches Tun leben und vermitteln und im besten Sinne zum Gemeingut machen, mit dem Entfremdungstendenzen der realen gesellschaftlichen Praxis zumindest teilweise kompensiert werden.”[5]
Hartmut Rosa sieht in »Demokratie braucht Religion« den Menschen hineingestellt in eine weltliche Ordnung, die sich nicht mehr ausschließlich bedarfsdeckend erhalten kann. Um den Status Quo beständig zu erreichen, wird der Mensch zur allzeit innovativen Überproduktion von Ware, Energie und menschlicher Selbstoptimierung angetrieben. Dass diese Rechnung geistigem und seelischem Resonanzbedürfnis im Wege steht, ist selbstredend. Zumal wir, so Hartmut Rosa, immer mehr in ein Zeitalter geraten, in dem wir uns die Frage stellen müssen, was wir da tatsächlich erhalten können. Das geht bis hin zu der Aussage: “(…) eine Gesellschaft, die systematisch sagt, wir stellen uns so auf, dass wir immer mehr Energie investieren, umsetzen »capturen« müssen, um das Bestehende zu erhalten – die ist pervers.”[6] Dieser Perversität ständig ausgeliefert und immerfort, unabwendbar, sehenden Auges ein Teil der ewigen Selbstoptimierung respektive Selbstzerstörung zu sein, geht nicht spurlos an einem fühlenden, sich nach Auseinandersetzung, nach Zuhören, nach freier Antwort begehrenden, auf Resonanz angewiesenen Verstandeswesen vorüber. Der Mensch sehne sich nach einem hörenden Herzen so Rosa und schreibt: “(…), dass es insbesondere die Kirchen sind, die über Narrationen, über ein kognitives Reservoir verfügen, über Riten und Praktiken, über Räume, in denen ein hörendes Herz eingeübt und vielleicht auch erfahren werden kann.”[7] Die Conclusio des Soziologen gründet sich auf den Natalitätsbegriff Hannah Arendts: Indem wir als Menschenwesen befähigt sind, neu anzufangen und Neues hervorzubringen, vermögen wir auch in unserer Beziehung zu Gott und zur Welt jederzeit einen selbstverantwortlichen Neubeginn.
Dieser Neubeginn hat in unserer Pfarre einen wirklich im wahrsten Sinne des Wortes erbaulichen, wie zauberhaften Anfang gefunden. Mit dem Beginn der Renovierung unserer Pfarrkirche macht unsere Dorfgemeinschaft sich sichtbar und bekennt Farbe; das hörende Herz Gottes wird lebendig in abermals farbenprächtiger Gestaltung – Alles, was wir sehen und fühlen, was unseren Herzen Unbeschwertheit und unseren Augen Weite verleiht, erzählt vom künstlerischen Triumph barocken Lobpreises zu Ehren Gottes. Alles spricht von „Mut, Opfergeist und Ausdauer für “[ein] großes und schönes Werk“[8] Ein gemeinschaftliches Werk, das uns zur Auseinandersetzung herausfordert. Ein Werk, das alle Facetten des Lebens widerspiegelt und uns in der gesamten Bandbreite von Ernsthaftigkeit und Freude nicht verzagen lassen möchte. Ein Werk, das laut ausruft: “Der ewigreiche Gott, woll uns in unserm Leben ein immer fröhlich Herz und edlen Frieden geben.“[9]
“Kleine Kirchengalerie”
Die Fotos im Artikel, wenn nicht anders erwähnt von: A. Pargger/Die Fotografen in der Galerie wurden extra angeführt/Die Begriffe: Lünettenfenster und Grisaille werden in der Galerie “erklärt”/Die Fotos in der Kirche wurden zu unterschiedlichen Tageszeiten und bei verschiedenen Wetterbedingungen aufgenommen, dadurch erklärt sich die Schwankung in der Farbpalette und die der Lichtverhältnisse
[1] Entnommen aus der Dorfchronik: „Kirchenbauten in unserem Dorfe“
[2] Gotteslob Österreich, Lied 405
[3] Ken Follett, 2003, Die Säulen der Erde, Bastei Lübbe, Bd. 11896, S. 142
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Dorfkirche
[5] Hartmut Rosa, 2022, Demokratie braucht Religion, München, Kösel Verlag, S. 14f
[6] Hartmut Rosa, 2022, Demokratie braucht Religion, München, Kösel Verlag, S. 40
[7] Hartmut Rosa, 2022, Demokratie braucht Religion, München, Kösel Verlag, S. 55f
[8] Entnommen aus der Dorfchronik: „Kirchenbauten in unserem Dorfe“
[9] Gotteslob Österreich, Lied 405, Nun danket alle Gott
Liebe Angela! Gratuliere herzlich zum Artikel und bin ganz stolz, dass meine Bilder helfen konnten.
LG
Karl Kircher
Lieber Karl,
Ich möcht mich von Herzen bei Dir bedanken, dafür, dass Du aufgrund des Zeitdrucks mir noch so spät am Abend mit soviel Selbstverständnis die Bilder bereitgestellt hast! Ganz Tolle Aktion! Ich schätze Deine Bilder von der ersten Sekunde, als ich sie gesehen habe für ihre Qualität und Aussagekraft. Ich würde mich freuen, wenn wir weiter in Kontakt bleiben und den ein oder anderen Artikel miteinander “schupfen” könnten. Mein Artikel hat durch Deine Bilder sehr gewonnen, finde ich.
Liebe Grüße, Angela