Wolf Haas und Dinçer Güçyeter haben kaum etwas gemeinsam. Der österreichische Autor wurde vor allem durch seine neun Brenner-Krimis bekannt, der Deutsch-Türke Dinçer Güçyeter wird in Deutschland vor allem als Lyriker und Verleger wahrgenommen. Doch jeder hat vor kurzem ein Buch über seine Mutter geschrieben und für beide stand von vorneherein fest, dass es kein „normaler“ Roman mit fortlaufendem Erzählfluss werden kann.
Wolf Haas beginnt wenige Tage vor dem Tod seiner Mutter, als sie, schon etwas dement, ihn bittet, ihren (längst verstorbenen) Eltern mitzuteilen, dass es ihr gut gehe. Dabei hatte sie doch ihr Leben lang geklagt, dass es ihr und ihrer Familie schlecht ging. Aus solchen Widersprüchen (auch mit seinem eigenen Leben) baut Wolf Haas einen fragilen Text über das Leben seiner Mutter. Früher oft gefragt, ob man vom Schreiben leben könne, stellt er sich hier der Frage, ob man vom Leben schreiben kann. Und nähert sich der Antwort über das Eigentum, Wohneigentum nämlich, das seine Mutter im Leben nie erreichte. Inflation und innerfamiliäre Begehrlichkeiten waren immer stärker als die schmalen Einkünfte der Mutter. Selbst aus der Gemeindewohnung musste sie wegen eines Immobiliendeals hinaus und ins Altersheim.
Wolf Haas stellt erinnerte Erzählungen seiner Mutter unvermittelt neben Szenen aus den letzten Lebenstagen der 95jährigen, in denen er sie im Altersheim besucht. Ständig schweift er dabei ab zu der Poetikvorlesung, die er schreiben soll, und zu verschiedenen Berechnungen über Quadratmeterpreise. Was er für seine Poetikvorlesung notiert, führt er in seinem Buch aus: 1) Die Inflation des Geldes; 2) Die Entwertung des Menschen; 3) Die Aufgeblasenheit der Literatur. Letztere versucht er durch Abschweifungen, Gegenüberstellungen und Rückblenden zu überwinden. Dabei überfordert die Aufgabe, das Leben seiner Mutter in Worte zu fassen, den Autor und lässt ihn gleichzeitig nicht mehr los. Und so mündet er immer wieder in diesen Satz: „Etwas niedergeschlagen stehen zwei Zuschauer auf der Walstatt, der Schreiber und der Leser.“
Keineswegs niedergeschlagen bleibt man jedoch zurück beim Lesen von „Eigentum“, sondern berührt von dem behutsamen und hochliteratischen Zugang von Wolf Haas, der vom Leben schreibt und die Poetikvorlesung gleich mitliefert.
Dinçer Güçyeters Mutter lebt noch und ist angeblich erstaunt über den Erfolg und die Breitenwirkung seines mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneten Romans „Unser Deutschlandmärchen“. Wobei Roman dem vielgestaltigen Text nicht ganz gerecht wird. Mit Fotos, kurzen Geschichten und Szenen, Briefen und Gedichten baut Dinçer Güçyeter das Leben seiner Mutter als türkische Migrantin am Niederrhein nach. Diese Generation wurde in den 1960er Jahren als Arbeitskräfte angeworben, viele bereits in Deutschland Tätigen suchten über Mittelsmänner Frauen aus der Heimat zum Heiraten. Eine Chance für Fatma, ihrer bereits vorher innerhalb der Türkei vertriebenen Familie zu helfen – „Fatma soll den Weg für ihre Brüder pflastern!“
Wie Wolf Haas sieht sich auch Dinçer Güçyeter außer Stande, das Leben seiner Mutter einfach nachzuerzählen und auch er fragt sich, wie er aus den oft wiederholten Geschichten, dem vielen Schweigen dazwischen und seinem eigenen, auch kritischen Beobachten ein Ganzes bauen kann. Er tut es in der Form von träumerischen Sequenzen über Anatolien als Sehnsuchtsort der Entwurzelten ebenso wie in kurzen Erzählungen von Gewalt und engen Grenzen, besonders für Frauen. Deutschland bedeutet mehr Möglichkeiten, aber vor allem unendlich viel Arbeit, gerade auch, weil der Mann mit immer neuen wahnwitzigen Projekten Schulden anhäuft und mit seiner kleinen Kneipe lieber Freunde aushält als Geld verdient. Güçyeter denkt jedoch gar nicht daran, seine Mutter als Opfer darzustellen. Er zeigt sie als entschlossene, tatkräftige Person, die trotz mangelnder Deutsch- und Landeskenntnisse die wiederkehrenden finanziellen Probleme der Kneipe gegenüber Behörden und Gläubigern überwindet, selbst nach einem Arbeitsunfall und gesundheitlichen Problemen nicht aufgibt und es sogar schafft, sich trotz all der vielen Arbeit ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Dass das überhaupt klappt liegt an ihrem Organisationstalent. Sie sorgt für Hilfe von Frauen aus der Familie, wehrt sich erfolgreich gegen Begehrlichkeiten von anderen Familienmitgliedern und organisiert ein Erntehelferteam aus den Frauen der Migranten, um zusätzliches Geld zu verdienen. Auch Dinçer macht schon als Schulkind mit.
Güçyeter wechselt in dem Roman immer wieder die Perspektive, bringt kurze Szenen mal aus der Sicht seiner Mutter, dann aus der eigenen, dazwischen eingestreut sind Gedichte, Briefe, Gebete. Der Gesang der Elfen als Dialog mit Dinçer erzählt von Fatmas Kinderwunsch. Später lernen wir auch etwas über seine Entwicklung als Autor. Anfangs will er schreiben wie die Texte der türkischen Popmusik, erst viel später beginnt die Suche nach einer eigenen Stimme, auch befeuert durch die Lektüre deutscher Literatur. Die Theatererfahrung von Güçyeter merkt man daran, wie er Geschichten um bestimmte Situationen herum organisiert, aus denen sehr lebendige Figuren entstehen.
Ein eigenwilliger Text mit viel Humor, Emotion und Poesie – lassen Sie sich auf ein Abenteuer ein!