9. April 2025
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NAHOST – ein schier unlösbar scheinender Konflikt mit (über)regionalen und globalen Implikationen

Selektion von Büchern zum Thema "Nahost"
Lesedauer ca. 4 Minuten

Sollte nun Netanjahu, der aktuelle Ministerpräsident von Israel, falls er nach Deutschland käme, verhaftet werden, nachdem er vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (zusammen mit dem Ex-Verteidigungsminister Galant und dem Hamas-Führer Deif) auf die Liste der Kriegsverbrecher gesetzt wurde, oder nicht?
Diese Frage wird derzeit in Deutschland heiß diskutiert (im Zusammenhang mit der sogenannten „Staatsräson“, in deren Rahmen man sich verpflichtet fühlt, sich für Israels Sicherheit ohne Wenn und Aber einzusetzen).

Auch in unserem DZ-Blog kam es neulich zu einer kontroversiellen Diskussion zu diesem Thema (siehe Kommentare zu Andrew Skinners Artikel „A Mass for Peace: Peace in a Mess?“: https://blog.dorfzeitung-inzing.at/?p=18269).

Das Thema ist äußerst komplex, vielschichtig und unübersichtlich. Man fühlt sich daher oft total überfordert, ja orientierungslos. Einerseits ist der seit Jahrtausenden (!!) vorhandene Antijudaismus bzw. Antisemitismus – auch wenn es dafür immer wieder Erklärungsversuche gegeben hat – ein letztlich absolut nicht nachvollziehbares, ungustiöses Phänomen. Andererseits kann man die Augen nicht vor dem unsäglichen, jahrzehntelang andauernden Leid der palästinensischen Bevölkerung verschließen. Und wieder andersherum muss man die ebenso seit Jahrzehnten vorhandene, permanente Bedrohung Israels durch die Nachbarstaaten als Triebfeder für die Existenzerhaltung des Staates begreifen.
Fragen wie „Wer hat angefangen?“ oder „Was war zuerst?“ und gegenseitige Schuldzuweisungen sind in dem so ersehnenswerten Friedensprozess einfach nicht zielführend, ja kontraproduktiv. Es braucht (besonders auch politisch) vernünftige Stimmen, die das große Ganze im Blick haben.
Beispielhaft möchte ich dafür Frau Sumaya Farhat-Naser, eine christlich-palästinensische, unermüdliche Friedensaktivistin aus dem Westjordanland (mit Tirol-Bezügen), und den international bekannten Dirigenten und Musiker Daniel Barenboim nennen, dessen West-Eastern Divan Orchestra sich aus palästinensischen und israelischen MusikerInnen zusammensetzt.

Zu dieser Problematik gibt es eine Unzahl von Büchern und Publikationen. Einige aus jüngerer bzw. jüngster Zeit möchte ich hier kurz vorstellen:

(1) Ramsauer, Petra: NAHOST VERSTEHEN – Wie eine Region die Welt in Atem hält. 2024, Edition a

Jahrzehntelang hat die österreichische Journalistin und studierte Politikwissenschaftlerin für diverse Medien aus dem Nahen Osten berichtet (u.a. für den ORF, profil, Schweizer Rundfunk). In ihrem neuesten Buch habe ich besonders die geschichtliche Aufarbeitung der letzten gut hundert Jahre geschätzt. Ohne diese Hintergrundinformationen sind die Vorgänge im Nahen Osten nicht zu verstehen.

Daraus ergibt sich die Quintessenz, dass nicht nur palästinensische Widerstandsbewegungen oder zionistische Gebietsansprüche entscheidende Faktoren im nahöstlichen Dilemma sind, sondern dass auch viele überregionale und globale Player für die Misere verantwortlich zeichnen.

Die alles entscheidende Frage lautet: Wie kann es gelingen, die Region des Nahen Ostens endlich zu befrieden?

Immer mehr ExpertInnen kommen nach den Ereignissen des 7. Oktober 2023 zum Schluss, dass an einer Zweistaatenlösung kein Weg vorbeiführt. Zwischenzeitlich war diese Strategie von allen Seiten als unrealistisch verworfen worden, obwohl sich immer wieder im Laufe der Geschichte wichtige Persönlichkeiten dafür ausgesprochen hatten.
So sagte bereits 1929 (!) Albert Einstein: „Wenn wir in diesem Gebiet keinen Weg hin zu einer ehrlichen Kooperation mit ehrlichen Vereinbarungen mit den Arabern finden, dann haben wir aus 2000 Jahren Leid nichts gelernt.“ (Ramsauer, S. 206)

Leider sind die politischen Führungseliten auf beiden Seiten derzeit strikt gegen eine Zweistaatenlösung. Erst im Juli dieses Jahres stimmte die Mehrheit im Parlament in Israel für eine Resolution, in der die Etablierung eines unabhängigen Palästinenserstaates kategorisch abgelehnt wird. Aktuelle Umfragen (2024) zeigen, dass „nur noch ein Drittel der Palästinenser daran glaubt, einen eigenen Staat zu bekommen, und nur ein Fünftel der jüdischen Bevölkerung Israels eine Zwei-Staaten-Lösung befürwortet.“ (Ramsauer, S. 208)

bbb

(2) Zimmermann, Moshe: NIEMALS FRIEDEN? Israel am Scheideweg. Propyläen, 2024

Moshe Zimmermann setzt sich vehement für die Zweistaatenlösung ein (für viele die einzige Möglichkeit einer friedlichen Lösung des Konflikts). Dabei können auch die Staaten selbst ethnisch inhomogen sein.

Auf S. 182 und 183 schreibt er:
… Da im Land Palästina oder Eretz Israel [= Land Israel(‘s)] nicht nur das jüdische Volk lebt, sondern auch ein Volk, das sich Palästinenser nennt, muss auch für dieses Volk das Recht auf Selbstbestimmung gewährleistet sein…
Nationalstaaten müssen … keine ethnisch homogene Staaten sein – sie vertragen nationale Minderheiten und Heterogenität. … jeder, der in Israel ein Krankenhaus von innen kennt…, weiß Bescheid – die arabischen Mitbürger sind aus der israelischen Gesellschaft nicht wegzudenken …

bbb

(3) Mendel, Meron: ÜBER ISRAEL REDEN. 2023, Kiepenheuer & Witsch

“Dies ist ein großes, in großer geistiger Unabhängigkeit geschriebenes Essay eines Autors, der an billigem Applaus und muffigem Zugehörigkeitsgefühl offenbar so fantastisch desinteressiert ist, wie es auf diesem Gebiet leider sehr, sehr selten geworden ist.” (Kommentar in der Süddeutschen Zeitung)

In diesem Buch werden hochinteressante und brisante Fragen gestellt, die der Autor beantwortet:
– Muss Deutschland (und Österreich bzw. andere Staaten – könnte man ergänzen) immer auf der Seite Israels stehen?
– Wo verläuft die Grenze zwischen Kritik an Israel und Antisemitismus?
– Wie verhält es sich mit palästinensischen Stimmen in den Medien – sollten auch radikale Positionen Raum bekommen?

bbb

(4) Farhat-Naser, Sumaya: EIN LEBEN FÜR DEN FRIEDEN. 2017, Lenos

Ein sehr zu empfehlendes Standardwerk einer unermüdlichen Friedensaktivistin!!

Die mit ihrer Familie im seit 1967 von Israel besetzten Westjordanland lebende Sumaya Farhat-Naser gilt als eine der engagiertesten Friedenskämpferinnen auf palästinensischer Seite.
Sie hat in Hamburg Biologie (Doktorat in angewandter Botanik), Geographie und Erziehungswissenschaften, ihr Sohn Anis in Innsbruck Medizin (Abschluss 2004) studiert.

Ein Leben in diesem Gebiet bedeutet, unglaublichen Schikanen ausgesetzt zu sein:
– eingeschränkte Bewegungsfreiheit
– zahlreiche Checkpoint-Kontrollen
– dauernde Provokationen durch die völkerrechtswidrigen, vom Staat Israel nicht nur geduldeten, sondern aktiv unterstützten, illegalen Siedlungstätigkeiten ultra-orthodoxer, rechtslastiger israelischer Juden
– u.v.m.
Trotzdem versucht Frau Farhat-Naser seit Jahrzehnten, in völkerverbindenden Projekten einen Beitrag zu einem friedlichen Zusammenleben der verschiedenen ethnischen Gruppen zu leisten (Friedensinitiativen mit Frauengruppen, Seminare mit Jugendlichen etc.).

Dafür ist sie weltweit unterwegs, um im Rahmen von Lesungen bzw. Diskussionen Verständnis für die Probleme und besonderen Gegebenheiten ihres Landes zu wecken. Immer wieder kommt sie auch nach Tirol (mehrmals auch nach dem 7. Oktober 2023, als auf die friedlich im Grenzgebiet zu Gaza lebenden jüdischen Menschen der fürchterliche Terroranschlag der Hamas verübt wurde).

Fotos: Buch-Cover (L. Strasser)

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Luis Strasser

Als begeisterter Leser der Printausgabe der DZ hat sich Luis – zusammen mit einem kleinen Team – nach der drohenden Einstellung der Druckversion 2019 dafür eingesetzt, die DZ in irgendeiner Form zu erhalten. Das Resultat ist der nun vorliegende Blog, an dem als Redaktionsmitglied und Autor mitzuarbeiten ihm viel Freude bereitet. Seine Schwerpunktthemen: Politik, Bildung, gesellschaftlicher Wandel, Zeitgeschichte…

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Ein Gedanke zu “NAHOST – ein schier unlösbar scheinender Konflikt mit (über)regionalen und globalen Implikationen

  1. Dear Luis,
    Many thanks for your insightful and useful article. And thanks for stressing the importance of the joint Israeli-Palestine initiative of the West-Eastern Divan Orchestra, founded by Edward Said and Daniel Barenboim. Each summer the orchestra perform in the Royal Albert Hall London, as part of the internationally acclaimed Promenade Concerts.
    It’s through such admirable musical, literary and cultural initiatives that common ground can be found, fertilized and nurtured for future growth.
    This is also why initiatives like the performance of Karl Jenkins’s ‘L’Homme Arme – A Mass for Peace’ in Innsbruck in October are so important.
    In view of the take-over of Damascus and Syria by ….. (do we really know exactly by whom yet?) ….. the Muslim ‘Call to Prayers’ in the second part of Karl Jenkins’s oratorio is well worth listening to again.

    Yours supportedly,
    Andrew (Milne-Skinner)

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