Präventionsparadox – welch schönes Wort, in seiner Befremdlichkeit so treffend. Fast schon mit poetischem Anklang und philosophischem Unterschwung. Und dennoch die Kennzeichnung einer ernüchternden und irritierenden Erkenntnis. Das Wort bezeichnet, dass von Teilen der Bevölkerung die Notwendigkeit frühzeitig getroffener Maßnahmen angezweifelt wird, bedingt durch die Wirksamkeit ebendieser Maßnahmen, die schon im Vorhinein von Einigen mit einem großen Fragezeichen versehen wurden.
Einer Erkenntnis nun, die man fast schon hat kommen hören in den leisen Anfängen dieser Pandemie aufgrund derer derzeit unpopuläre Entscheidungen getroffen werden müssen. So werden Gewohnheiten, Freiheiten, arbeitsrechtliche Bestimmungen außer Kraft gesetzt und/oder beschränkt.
Ganz nüchtern betrachtet, partei- und personenunabhängig sozusagen, liegen die sogenannten Regulierungskompetenzen in einer Ausnahmesituation, wie einer Pandemie, beim Staat und subsidiäre Interessen und Freiheiten können im Sinne des Schutzes vor der Pandemie beschränkt werden.
Hat die ganze Welt dieses Virus nun aber erfunden, um endlich den Regierungen dabei zu helfen, totalitäre Ansprüche und Diktaturen durchzusetzen? Derartige Annahmen manifestieren sich bereits in Teilen der Bevölkerung hartnäckig und lassen aufhorchen.
Welch demokratisches Verständnis liegt diesen Annahmen zugrunde? Oder ist es vielmehr die Beanspruchung eines falsch verstandenen demokratischen Gutes, demnach die Freiheit eben kein Gut wäre, sondern eine allzeit, gefälligst zur Verfügung stehende Ware ist. Der Anspruch diesem Gut gegenüber nicht demütig sein zu müssen, folgt stringent der Vorstellung, dass auch die Gesundheit etwas Einforderbares ist. Nämlich, dass wir auch als biologische Wesen alles beherrschen können und davon so verwöhnt sind, dass wir uns der Allmachtsphantasie der Beherrschbarkeit, der Beherrschbarkeitstheorie, eher hingeben als unangenehmen Fakten und Tatsachen.
Diejenigen, die diese Beherrschbarkeitstheorie empfindlich stören, sind zunächst die Faktenbringer und fast selbstredend die Erkrankten.
Die Faktenbringer sind, egal ob Virologen, die Presse, alle, die diese Beherrschbarkeitstheorie in Frage stellen, die Bösen, die Lügner, die, denen man Schaden an Leib und Seele angedeihen lassen möchte und die man tunlichst auf sich selbst zurückwirft.
Bei den Erkrankten ist es etwas schwieriger, die Beherrschbarkeitstheorie aufrecht zu erhalten, aber nicht unmöglich: Menschen, die an Cov19 sterben, sind entweder selbst schuld, schwach oder haben eben mit ihren Vorerkrankungen Pech gehabt, sie befanden oder befinden sich pauschal aufgrund ihres Alters bereits außerhalb der Beherrschbarkeit und waren oder sind ohnehin zum Sterben bereit. Dann ist es möglich, diese Toten auch achselzuckend als Kollateralschaden hinzunehmen und es egal sein zu lassen, wie ein Mensch daran stirbt. Und damit scheint letzten Endes Darwins Recht des Stärkeren im heilsbringenden Licht.
Die Liebe zum Menschen, die Güte und die Demut vor dem Leben hören scheinbar da auf, wo Ethik und Moral tatsächlich beginnen, wo es um tatsächliche Verantwortung geht, um ein moralisch-ethisches Handeln, das unter Umständen die persönliche Freiheit einschränkt. Hier wird zu moralisch eindeutig nicht nur bedenklichen Mitteln gegriffen. Wird Freiheit durch Mitglieder der Gesellschaft im Sinne der Rechtsbeugung mittels Einsatz von Gewalt und Aggression gegenüber Anderen eingefordert, wird auch die Demokratie gebeugt.
Beginnen wir zunächst mit einem harmloseren alltäglichen Beispiel, dem Einkauf in einem Geschäft:
Im Laden brummt es, die Menschen haben es zu eilig, um den Sicherheitsabstand einzuhalten oder sind abgelenkt vom Warenagebot. Höflich weist eine Kundin eine andere darauf hin, den Abstand zu ihr zu wahren. Die prompte Antwort: „Bleibens daheim, wenn Ihnen das nicht passt!“
Die zur Abstandswahrung aufgeforderte Kundin setzt also ihr Recht der eigenen Bewegungsfreiheit unter Missachtung der Rechte der anderen Kundin absolut. Überträgt man nun diese Beobachtung mit Blick auf die dargestellte Aggression und Absolutheit der Inanspruchnahme persönlicher Rechte in den öffentlichen Diskurs und beobachtet diesen unter dieser Prämisse, zeigt sich das Paradoxon in einer Weise, die schockiert. Denn, obwohl eine Demokratie viel aushält, auch ihre Infragestellung, wird es an diesem Punkt gefährlich.
Zunächst einmal: Wird einer These ein Gesicht und damit Daseinsberechtigung verliehen, muss sie diskutiert werden, egal, wer ihr „Füße“ verlieh, egal ob sie nun einem gemäßigten oder radikalen Lager entsprang. Beispiele hierfür gibt es genug: man bediene sich bei diversen Medizinern, Bloggern, Influencern, sämtlichen religiösen, politischen oder anderweitigen Gruppierungen und ihren Followern, die Thesen verbreiten, die neutral formuliert, besondere Weltanschauungen und Normen vertreten, aber immer eines gemeinsam haben: den Ruf nach persönlichen Freiheiten und Rechten und dem Schutz der Demokratie.
Aber bereits mit Beginn des demokratischen Diskurses, wird dieser durch jene aufgehoben, die ihn lautstark betonen: Denn, widerspricht man den Aussagen, die im Kern ethische Werte und Normen und demokratische Grundprinzipien gewollt oder ungewollt außer Kraft setzen (wollen), wird vehement darauf verwiesen, den demokratischen Diskurs zu unterdrücken. Eine Restriktion, also, die den demokratischen Diskurs de facto vernichtet. Ein Thesentotalitarismus, der unter dem Deckmäntelchen des Schutzes der Demokratie zum zivilen Ungehorsam aufruft; vielmehr aber noch, sich in seinem Absolutheitsanspruch der Mittel geistiger Brandstiftung bedient, da sie die Grundsätze einer Demokratie in Zeiten einer Pandemie missdeutet, gar missachtet und zum eigenen Vorteil zweckentfremdet. Die Missachtung der eigenen Verantwortung, durch erbarmungsloses, bereits als These indiskutables Einfordern demokratischer Grundrechte, findet seine bisher absolute Steigerung im darwinistischen Gedankenkonzept, bis hin zur Überlegung, wie man persönlich triagieren würde.
Das alles unter, vielleicht auch unüberlegter Inkaufnahme der tatsächlichen Vernichtung demokratischer Strukturen durch jegliche Form der Gewalt – angedroht oder ausgeführt – verübt an jenen, die man als Verantwortliche oder gar als absichtliche Verursacher der Krise sieht: Dies äußert sich in Elitenkritik, die weder vor Unterstellung perversester Neigungen oder gar antisemitischer Propaganda halt macht und gegen die zum Widerstand oder zu deren Vernichtung aufgerufen wird. Mittels Elitenkritik wird zudem unterstellt, Angst zu verbreiten, die den Bürger zur ewig kontrollierbaren Marionette machen soll. Was Aufrufe zur Folge hat, sich dem Staat und seinen Ausführenden, mit Gewalt zu widersetzen. Die Gewalt richtet sich auch gegen jene, die im scheinbaren Auftrag der Elite(n), die Krise mittels angeblich falscher Fakten herbeireden, wie Wissenschaftler, die Presse oder Personen des öffentlichen Lebens.
Außerdem zeigt sich dieses gewaltbereite Auftreten in Sündenbocktheorien, der Kennzeichnung der Vorgänge als göttliche Strafe für Ungläubige, die zu vernichten sind und in der Unterstellung, andere Staaten, die es nun zu bekriegen gelte, hätten das Virus in die Welt hinaus gesandt.
So entwickelt sich ein als „im Sinne der Demokratie“ getarntes Paradoxon, das unweigerlich an Vorkriegswirren erinnert: Die viel gepriesene Demokratie, die es zu schützen gilt und deren Zerstörung man sich heroisch entgegenstellt, wird gleichzeitig durch die Instrumentarien der Heroen ausgehebelt. Der Widersprechende, als Gegner betrachtet, wird verlacht, mundtot gemacht durch Drohungen, untergriffige Verhaltensweisen, ebenso wie versucht wird, diesen Gegner durch Falschmeldungen und Verschwörungstheorien unglaubhaft zu machen und in Bedrängnis zu bringen. Daraus ergibt sich eine Welt, in der Grundrechte erbarmungslos eingefordert werden, um gleichzeitig demokratische Grundsätze und Werte nicht nur zu verzerren, sondern auf den Kopf zu stellen.
Und um diese Welt voller Paradoxa mit einem weiteren Paradoxon zu benennen, scheint der Begriff der häretischen Demokratie angemessen, die inmitten der bunten Vielfalt einer lebendigen Demokratie zündelt und ihr höchstes Gut, ihre unabdingbarsten Rechte und Pflichten verschenkt. Womit wir wieder am Anfang stünden, nämlich bei der Kennzeichnung einer ernüchternden, irritierenden Erkenntnis in Anlehnung an den während der französischen Revolution hingerichteten Pierre Vernigaud: „So frisst die Demokratie ihre Kinder und ihr höchstes Gut, die Freiheit!“