31. Januar 2025
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Setz doch endlich das Hörgerät auf!

Von „Ohren wie ein Luchs“ können viele Menschen nur träumen.
Lesedauer ca. 6 Minuten

Ich hatte unlängst ein Erlebnis, welches mich nach einigem Hin-und-Her zum Schreiben dieser Zeilen bewegt hat. Ich muss gestehen, es fühlt sich etwas unangenehm an – man gibt öffentlich zu, von einer Eigenschaft betroffen zu sein, welche vom Großteil der Gesellschaft als nicht normal erachtet wird. Allerdings wird die hier genannte Eigenschaft mit zunehmendem Alter leider für Viele sehr wohl zur Normalität.
Es geht um den fortschreitenden Gehörverlust, welcher nicht nur die Betroffenen selbst, sondern oft auch deren Mitmenschen belastet.
Sehr viele von uns kennen die einem Wunder gleichende Wirkung einer Brille, welche Weit- oder Kurzsichtigkeit perfekt korrigieren kann. Kaum setzt man sich die Brille auf, sieht man so gut wie „Normalsichtige“.
Menschen, deren Gehör (noch) nicht geschädigt ist, haben meist die Vorstellung, dass Schwerhörigkeit mit einem Gehörschutzstöpsel im Ohr zu vergleichen ist und ganz einfach durch ein Hörgerät korrigiert werden kann. Eben geradeso, wie das beim Aufsetzen einer Brille der Fall ist.
Dies ist jedoch ein Irrglaube, weshalb den Betroffenen oft zu wenig Verständnis entgegengebracht wird. Das führt zu Frustration und Ungeduld. Sowohl bei den Betroffenen selbst, als auch bei jenen Personen, welche nicht in gewohnter Weise sprechen können, sondern sich auf ihr Gegenüber einstellen müssen, um verstanden zu werden. Gespräche werden zunehmend vermieden und schließlich aufs unbedingt Notwendige reduziert, was Betroffene immer mehr von Freundeskreisen und Familie ausschließt.
Die Person, worauf ich mich bei meinem Erlebnis beziehe, erzählte von einem solchen Fall. Ihr Vater hörte schlecht und besaß zwar ein Hörgerät, welches er aber nicht immer tragen wollte – dies zum völligen Unverständnis der restlichen Familie. Da ich selbst an einem geschädigten Gehör leide und wir ein vertrauensvolles Verhältnis haben, versuchte ich, die Gründe dafür zu erklären. Scheinbar gelang mir das gut und ich wurde regelrecht gedrängt, diese „so wichtige Information
unter die Leute zu bringen“. Nach anfänglicher Ablehnung habe ich mich nun doch entschlossen, dieser Bitte nachzukommen.
Wie bereits erwähnt, kann man das Aufsetzen einer Brille nicht mit dem Verwenden eines Hörgerätes vergleichen. Eine simple Fehlfokussierung des Auges ist nicht annähernd mit der Komplexität eines geschädigten Gehörs zu vergleichen. Bei Fehlsichtigkeit liegt die Ursache einzig und alleine daran, dass das scharfe Bild nicht exakt auf der Netzhaut platziert wird, sondern entweder vor (Kurzsichtigkeit) oder hinter (Weitsichtigkeit) der Netzhaut liegt. Das kann durch das Vorsetzen einer Linse in Form von einer Brille oder Kontaktlinse verlust- und kompromisslos erreicht werden. Bei Verwendung dieser Sehhilfe besteht keinerlei Unterschied mehr zu normalsichtigen Personen. Nicht zu vergessen – es gibt auch Sehschäden, welche nicht einfach durch eine Linse vollständig korrigiert werden können. Solche Schäden sind dann auch eher mit Gehörschäden vergleichbar.
Hörschädigung ist also viel komplexer als Kurz- oder Weitsichtigkeit. Das Ohr muss in der Lage sein, die gesamte Frequenzbandbreite des Schalls in ausreichender Intensität zu erfassen und an das Gehirn weiterzuleiten. Liegt eine Schädigung des Gehörs vor, werden manche Frequenzbänder viel zu schwach oder gar nicht mehr übertragen. Gespräche, Musik und sonstige Geräusche verkommen zu einem verschwommenen Brei. Es erfordert höchste Konzentration und Anstrengung, die für das Verständnis relevanten Teile herauszufiltern und zu einem sinnvollen Ganzen zu verarbeiten. Teilweise ist man darauf angewiesen, Lippenbewegungen sehen zu können, um zusammen mit dem Gehörten, den korrekten Buchstaben zuordnen bzw. erraten zu können (das macht es auch so schwierig, Filmen in fremder Sprache mit deutschsprachiger Synchronisation zu folgen).
„Aber dann setz doch einfach das Hörgerät auf!“ – Diese so scheinbar einfache Lösung funktioniert hervorragend in der Fernsehwerbung, jedoch selten so perfekt in der Realität. Je öfter ich mit anderen Betroffenen darüber spreche, desto sicherer bin ich mir, dass es fast jedem Hörgeschädigten ähnlich geht: Das Hörgerät kann zwar Laute verstärken, es kann aber die Defizite nicht vollständig korrigieren und damit auch nicht die ursprüngliche Hörfunktion komplett wiederherstellen.
Um diese Empfindung für Normalhörende „anschaulich“ vermitteln zu können, habe ich ein Foto so bearbeitet, wie es mein Gehör „sehen würde“. Das mag für jeden Betroffenen ein wenig anders aussehen und ich bin mir nicht einmal sicher, ob es mein eigenes Hörempfinden wirklich ganz exakt widerspiegelt. Aber ich denke, dass das Empfinden der Betroffenen anhand der folgenden Abbildungen für Außenstehende dennoch besser verstanden werden kann.
Welcher Inzinger kennt nicht den schönen Wasserfall im Mühltal? Man hört das Tosen herabstürzender Wassermassen, helles Gluckern, etwas geschützt hinter den Felsen ist Vogelgezwitscher, das Summen von Insekten und Blätterrauschen zu vernehmen und da und dort erklingen manchmal auch die hellen Stimmen spielender Kinder.


Für Hörgeschädigte klingt das alles sehr viel dumpfer, verwaschen und wenig kontrastreich. Geräusche, wie Vogelgezwitscher verschwinden überhaupt komplett und das Summen der Mücke ist erst zu hören, wenn sie sich bereits ins Ohr verirrt hat.


Nach Jahren des sich schleichend verschlechternden Hörempfindens bemerkt man irgendwann, dass andere Menschen verstehen, was man selbst längst nicht mehr entschlüsseln kann. Man hat sich an dieses „dumpf matschige akustische Bild“ gewöhnt und weiß auch gar nicht mehr, wie „normales Hören“ überhaupt klingt. Sicherlich lauter. Aber das alleine kann es nicht sein, denn schließlich empfindet man die herabstürzenden Wassermassen auch als Hörgeschädigter immer noch als sehr laut.
Da man Vögel wieder zwitschern hören und Gespräche verstehen will, beschafft man sich ein Hörgerät. Nach unzähligen Anpassungen des Gerätes gemeinsam mit dem Akustiker scheint endlich eine Einstellung gefunden zu sein, welche noch erträglich und zudem auch nützlich ist. „Erträglich“ deshalb, weil auch Laute verstärkt werden, welche als höchst unangenehm empfunden werden. Und
„Nützlich“, weil man ja genau die für das Sprachverständnis relevanten Frequenzen in ausreichender Lautstärke benötigt. Ein kaum lösbarer Konflikt bei der Anpassung, wie mir scheint.
Ich setze nun also das Hörgerät auf und das von mir empfundene akustische Bild ändert sich tatsächlich. Manchmal deutlich, teilweise aber auch kaum merkbar – das hängt offenbar sehr davon ab, aus welchen Lauten das „Bild“ zusammengesetzt ist.


Ich höre nun Dinge, welche mir zuvor entgangen sind. Das akustische Bild in diesem Beispiel wurde lauter und kontrastreicher. Trotzdem fällt es mir immer noch schwer, Feinheiten zu differenzieren.
Und je nach Art und Mischung der Geräusche sind diese nun manchmal sogar schmerzhaft und unerträglich schrill. Manchmal möchte man sich die Hörhilfen am liebsten sofort aus dem Ohr reißen bzw. versucht, die Lautstärke rasch zu verringern, falls es das Gerät erlaubt.
Besonders schwierig ist die Situation für Hörgeschädigte in Umgebungen mit vielerlei Geräuschquellen. Stimmen und Musik überlagern sich, summieren sich einerseits zu unerträglicher Lautstärke und können aber andererseits nicht voneinander differenziert werden. In solchen Umgebungen fühlen sich Hörgeräte wie Folterinstrumente an. Die ohnehin schon nicht zuordenbaren Lärmspitzen werden noch mehr verstärkt, ohne jedoch Klarheit „ins Bild“ zu bringen und der einheitliche Brei aus Geräuschen wird ebenfalls bloß lauter. Jene Details, welche man zum Verstehen bräuchte, scheinen komplett unberührt zu bleiben. Wenn man in solcher Situation den Vorwurf hört „so setz doch das Hörgerät auf, damit du mich verstehst“, zerrt das ernsthaft am Nervenkostüm des ohnehin bereits Geschädigten.
Ich habe versucht, mehrere gleichzeitig vorhandene Geräuschquellen zu simulieren, indem ich dem bereits bekannten Wasserfall noch ein „Konzert“ überlagert habe. Schon als Normal-Hörender ist es nicht immer einfach, verschiedene Geräuschquellen auseinander zu halten. Als Hörgeschädigter grenzt das ans Unmögliche.


Während man bei korrekter Hörfunktion die beiden „Geräuschbilder“ noch einigermaßen voneinander trennen kann (links), ist dies bei Verwendung eines Hörgerätes – zumindest für mich – nicht mehr möglich (rechts).
Hier das „Konzert ohne Nebengeräusche“ dargestellt:

Mezcal Collective Konzert mit Luiz Márquez in “Die Bäckerei”, Innsbruck


Ich hoffe, die Person, welche mich zum Schreiben dieses Artikels motiviert hatte, behält recht. Demnach müssen Betroffene nicht mehr im Glauben gelassen werden, dass es nur am fehlenden Willen läge, kein „normales“ Gespräch mehr führen zu können. Und den Mitmenschen wird es nun hoffentlich auch leichter fallen, das scheinbar „sture“ Verhalten besser zu verstehen.
In diesem Sinne – schont eure Ohren, solange es nicht zu spät ist, und genießt die Stille der Natur!

Fotos: Original und bearbeitet von Ernst Pisch

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Ernst Pisch

Ernst fotografiert in seiner Freizeit leidenschaftlich gerne und interessiert sich für die Technik, welche dahintersteckt. Während der oft längeren beruflichen Fahrten von und zu den Kunden denkt er unter anderem auch gerne darüber nach, warum die Welt genau so ist, wie sie ist. Dabei entstehen Fragen und manchmal auch neue Interessen, Ideen und Erkenntnisse, welche er gerne mit anderen teilt.

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