Jede Nacht überspannt uns ein Zelt, aus dunklem Samt gewoben und von trilliarden Lichtern durchwirkt. Seit Urzeiten regt dieses kühle Funkeln unser Suchen und Fragen an. Wie in einem gigantischen Bilderbuch finden wir dort oben die Abbilder der Protagonisten aus Erzählungen, deren Autoren selbst längst zu Staub zerfallen sind. Ein jedes Sternbild hat seine Geschichte, ist konservierte Erzählkunst. Hier soll dazu eingeladen werden, einige dieser himmlischen Piktogramme zu entstauben und sich von ihnen auf eine Zeitreise durch menschliches Träumen leiten zu lassen.
Wie bereits im vorhergehenden Text erwähnt, wuchert zwischen den Lichtpunkten und erdachten Linien, die die Sonnen der Jungfrau miteinander verbinden, ein mannigfaltiges Geflecht aus Mythen. Nachdem wir uns in eine der mesopotamischen Versionen vertieft haben, machen wir einen Jahrtausendsprung nach vorne und wenden uns einmal mehr den Griechen zu:
Ihre Dichter und Sternkundler erzählten von Persephone – einer geraubten Sonne – und ihrer Mutter, der eigentlichen Hauptrolle dieses Mythos.
Besuchen wir also den wolkenumschlungenen Götterpalast des Zeus. Unter seinen Bewohnern war auch die stille und sanfte, manchmal etwas verträumte Demeter. In römischen Tempeln huldigte man ihr unter dem Namen Ceres.
Meist traf man Demeter in sich selbst versunken bei der Pflege einer ihrer Gärten an. Stets ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen und schwarze, köstlich duftende Erde unter den Fingernägeln: So wandelte sie mal still, mal summend, mal singend durch ihre aromatischen Refugien. Selbst in einem versteckten Winkel zwischen den zerklüfteten, eisüberzogenen Felsen des Olymps lag eine ihrer heimlichen Oasen des ewigen Frühlings. Im Schatten schön gewundener Olivenbäume dufteten dort scheinbar von Zeit und Frost befreite Dill- und Fencheldolden zwischen Habichtskraut, Hyazinthen und Krokussen.
Derlei magische Gärten unterhielt Demeter einst in ganz Griechenland und weit darüber hinaus. Einige wenige liegen vielleicht noch irgendwo versteckt in unseren Wäldern, Tälern und Auen, bisher unberührt von menschlicher Zerstörungswut.
Diese sanftmütige Gärtnerin war selbst für eine Olympierin von nobler Herkunft. Ihre Geschwister waren keine geringeren denn Hera, Hestia, Poseidon, Hades und Zeus – allesamt Vertreter der ersten Göttergeneration. Demeter kam die Rolle einer Muttergöttin zu, die sich um die Fruchtbarkeit der Äcker, den Verlauf der Jahreszeiten und das Einbringen der Ernte kümmerte. Sie war es auch, die den Menschen beibrachte Korn zu sähen, Pflüge zu bauen und das nomadische Leben als Wildbeuter aufzugeben. Durch ihre Aufgabe war sie den Sterblichen näher als die meisten ihrer Art und daher kümmerte sie sich wenig um das ewige göttliche Gezänk, hielt eine höfliche Distanz zu ihresgleichen. Vielleicht war Demeter eine der wenigen Gottheiten die eine erfüllende Freude, einen sie selbst bereichernden Sinn in ihrem Tun fand.
Ihren höfischen Pflichten kam sie dennoch klaglos und nicht unwillig nach. In früheren Zeiten war es hin und wieder noch üblich, dass die Götter an den Hochzeiten der Menschen teilnahmen. Und als Harmonia, die Tochter des blutdürstigen Kriegsgottes Ares und der eitlen Liebesgöttin Aphrodite, dem sterblichen Helden Kadmos, Gründer der Stadt Theben, zur Frau gegeben wurde, da war der gesamte Olymp zum Bankett geladen. Demeter, die menschliches Essen sehr mochte, kam gerne. Sie selbst war keine Köchin, sie zog die Samen nur groß, schenkte den Wurzeln fruchtbaren Mutterboden. Die Kreativität, mit der die Menschen diese ihre Gaben zu kombinieren vermochten, erfüllte sie mit einer kindlichen Freude und heimlichen Stolz.
Zu jener Hochzeit war auch ein Mann mit Namen Iasion eingeladen. Demeter, die ansonsten mit einem entrückten Blick und zeitverlorenem Lächeln in den Speisen stocherte oder die sie umgebende Natur bestaunte, wurde bei seinem Anblick seltsam gegenwärtig. Der junge Sterbliche war hübsch, nein – schön sogar! Eine authentische Freude ging von ihm aus, eine charmante Gelassenheit beherrschte sein Tun und obwohl er sich in der Gegenwart der höchsten Götter befand, scherzte und lachte er, als wären selbst sie nur einfache Gäste. Schnell fiel auch Iasions Blick auf das weiche Gesicht der weizenblonden Göttin mit dem geflochtenen Haar. Sofort erkannte er die Neugier in ihren plötzlich klar gewordenen Augen. Wenig später saß er bereits an Demeters Seite, brachte sie zum Lachen, regte sie zum ausgelassenen Plaudern an, schmeichelte ihr gekonnt. Nicht lange und in beiden Herzen keimte der Frühling einer frischen Liebe, tauende Rinnsale aus Hormonen speisten den Strom in ihren Adern und bald stahlen sich die beiden heimlich davon.
Schon wenige Minuten später fiel Zeus die Abwesenheit seiner Schwester auf. Stirnrunzelnd sandte er seinen Sohn Hermes aus um sie zu finden. Und Hermes fand sie. Eng umschlungen vergnügte sich das Liebespaar in einem dreifach gepflügten Acker, wie es ausdrücklich überliefert wurde. Hermes hielt sich zurück, eigentlich vergönnte der schelmische Gott den beiden ihren Spaß. Doch als sich das Liebesspiel allzu lange hinzog, musste er sich ein Herz fassen und die beiden Liebenden bitten, zurückzukehren. Nicht unfreundlich tat er das, sondern mit einem augenzwinkernden Mahnen an die Gebote der Höflichkeit.
Als Demeter und Iasion sich mit geröteten Gesichtern wieder der Feier anschlossen, erkannte Zeus unschwer, was dort zwischen den beiden vorgefallen war. Die Geister der Eifersucht bissen dem Wolkensammler ins unsterbliche Herz. Schon lange hatte er sich selbst nach einer Nacht mit seiner Schwester gesehnt. Doch die hatte dessen Annäherungsversuche bisher nie erwidert, sie schien sie überhaupt nicht bemerkt zu haben. Zeus hatte das stets auf ihre Verträumtheit geschoben und tröstete sich mit der Überzeugung, es würde sich schon irgendwann eine Gelegenheit ergeben. Doch nun musste er erkennen, dass sie ihm offensichtlich ganz bewusst die kalte Schulter gezeigt hatte. Umsonst hatte Zeus die Samen seiner Hoffnungspflänzchen ins Beet der Geduld gesät.
Dem Donnerer widerstrebte die Erkenntnis, von einem unbedeutenden Sterblichen derart ausgestochen worden zu sein. Gewitterwolken des Zorns verfinsterten seine edlen Züge, sein schwarzer Vollbart sträubte sich unter der entstehenden Elektrizität. In seiner Impulsivität fasste er ins Leere – sofort manifestierte sich ein zuckender und sich windender Blitz zwischen seinen Fingern. Wütend jagte er den Blitz gegen den noch lachenden, ahnungslosen Iasion. Ehe der überhaupt bemerkte wie ihm geschah, brach er schon tot zusammen, knisternde Glutnester im verkohlt glimmenden Haar.
Entsetzt waren die restlichen Gäste hochgesprungen, so mancher nahm panisch kreischend Reißaus. Vom festgewurzelten Rest wagte es keiner sich zu rühren, geschweige denn etwas zu sagen. Dumpfes Donnergrollen rollte vibrierend durch alle Bäuche. Zeus vernichtender Blick lag auf Demeter gerichtet, die ihre Hände in stummen Entsetzen über die weißgekochten Augen des Erschlagenen gelegt hatte. Ihr Blick war erneut in weite Ferne gerückt. Dieses Mal lag kein träumerisches Schwärmen, keine erfüllte Zufriedenheit in ihm. Die glanzlose Stumpfheit eines entsetzlichen Schocks erstickte das Licht ihrer Iris. Stumme Tränen, die keinen Muskel in Geburtswehen legte, strömten über Demeters aschfahl gewordene Wangen, sammelten sich widerwillig am erschlafften Kinn.
„Du weißt, weshalb.“ Die Stimme des Götterkönigs war lieblos und schroff. Mit energischen Schritten trat er an Demeter heran und packte sie unsanft am Arm. Als gleißender Lichtblitz schoss er sodann mit ihr hinauf in die Wolken, zurück in den Olymp. Nur ein fernes Gewittergrollen blieb von den beiden unter der bestürzten Hochzeitsgesellschaft zurück.
Im Palast angekommen verlor Zeus wenig Zeit und noch weniger Worte. Er schmiss Demeter auf sein Bett, dass er sonst mit seiner Gattin Hera teilte und fiel stumm über sie her. Demeter ertrug es, keinen Laut konnte er ihr entringen, keine Regung von ihrem Körper erzwingen. Kalt und schlaff lag sie unter ihm und wartete es gefühlstot ab.
Wenig später gebar sie Zeus eine Tochter, die sie Kore nannte. Kore erinnerte in nichts an ihre gewaltsame Zeugung. Im Gegenteil: Ihr war die schüchterne Schönheit und kompromisslose Fröhlichkeit der Blumenwelt zu eigen. Ihr Lachen glich dem der aufgehenden Frühlingssonne, ihre Liebe war Gefühl-gewordenes Abendrot. Dieses herrliche Kind tröstete Demeter über die Schrecken ihrer gewaltsamen Empfängnis hinweg, milderte den Schmerz jener Wunden. Aber Demeter war keine harte Gottheit, keine stoische Kriegerin wie ihre Nichte Athene, keine feurige Kämpferin wie ihre Schwester Hera. Die Gewalttat des Zeus hatte sie gebrochen. Nie wieder erlangte sie ihre Schwerelosigkeit zurück, nie wieder blickten ihre wasserblauen, großen Augen voll weltverliebter Sanftmütigkeit in die Ferne. Nur wenn sie ihre Tochter Kore in den Armen wiegte und ihr Wachstum überwachte, da blühte auch ihre Freude und Zuversicht wieder auf, da summte die Göttin ihre Melodien, da schien die Welt nicht länger ein zähnefletschendes Untier zu sein.
Auch Hades, dem Herrscher über die gleichnamige Unterwelt, fiel die entzückende Schönheit seiner erwachsen gewordenen Nichte auf. Stundenlang konnte er ihrem leichtfüßigen Tänzeln lauschen, dass durch die Erdkruste hinab bis an sein feines Gehör drang. Hades, der in der modernen Medienkultur gerne als intriganter Bösewicht und sadistischer Höllenherrscher dargestellt wird, war in Wahrheit weit davon entfernt einem griechischen Satan zu gleichen. Dem Wesen nach war auch er ein milder und ruhiger Gott, ein windstiller Gegenpol zur aufbrausenden Natur seiner beiden Brüder Poseidon und Zeus. Hades fand keinen besonderen Gefallen an Gewalt und Lärm, er hatte ein Herz für Kunst und Musik. Gewissenhaft regierte er sein ihm anvertrautes Reich, erließ Gesetzte und kümmerte sich um die allgemeine Ordnung im Totenland. Weder strafte er die Verstorbenen, noch urteilte er über sie – manchmal war er sogar rührselig genug, um Gnade vor Recht walten zu lassen. Es wäre auch nicht richtig, ihn als den Tod zu betiteln, der den Lebenden die Seelen entriss. Diese Aufgabe kam dem Gott Thanatos zu, dem Hypnos, der Schlaf, zum Bruder gegeben war.
Aber Hades war einsam. Keiner lebte mit ihm in seinem prächtigen Palast jenseits des Styx, niemand leistete ihm Gesellschaft auf seinem vergoldeten Thron. Abgesehen von seinem Neffen Hermes, dem Götterboten, kam ihn auch kaum jemand besuchen. Der brachte seinem Onkel hin und wieder Neuigkeiten von der Oberwelt. Dann erkundigte er sich auch gleich nach Hades Wohlergehen, munterte ihn mit seinen spitzfindigen Scherzen ein wenig auf und spielte ihm manchmal auf seiner Leier vor. Doch auch diese Lichtblicke waren rar und nur von kurzer Dauer und so war der Gott der Unterwelt zur Trübsal verdammt.
Bis Hades von Kore erfuhr. Dieses junge Mädchen, dass so ausgelassen mit den Okeaniden spielte und Blumen pflückte, verzückte ihn. Immer öfter zog er sich seinen magischen Helm über, eine Tarnkappe die ihn unsichtbar werden ließ, und besuchte so von allen Blicken verborgen die Blumenwiesen Siziliens, wo Kore sich gerne aufhielt. Ihre Lebensfreude, ihr strahlendes Lächeln – wie vermisste er solche Dinge im grauen, ewig lichtlosen Totenland! Verliebt hatte sich der Schwermütige in die aufblühende Frau. Gerne hätte er sich ihr genähert. Aber, so sagte Hades sich, es galt den Anstand zu wahren. Selbst wenn er wollte – er würde dieses Mädchen, die Tochter seines Bruders, nicht einfach so umwerben und verführen.
Also besuchter er eines Tages Zeus auf dem Olymp und hielt demütig um Kores Hand an. Zeus, der bezweifelte, dass Demeter ihre gemeinsame Tochter freiwillig der Unterwelt überlassen würde, sah sich einem Dilemma gegenüberstehen. Hades war ihm lieb und seine Loyalität war ihm teuer. Daher mochte Zeus den offensichtlich liebeskranken Bruder nicht vergrämen oder gar verletzen. Der oberste Olympier beschloss in seiner Not, sich aus der Affäre zu winden. Er gab Hades eine Antwort, die keine war: „Ich kann dir dies weder erlauben, noch kann ich es dir verbieten.“
Für den „Zeus der Unterwelt“ kam dies allerdings einer Zustimmung gleich. So freudig, wie er sich schon lange – viel zu lange! – nicht mehr gefühlt hatte, schwang Hades sich zurück in sein Reich, um seinen von feurigen Rössern gezogenen Streitwagen vorbereiten zu lassen. Sich des Segens seines Bruders sicher fühlte der Gott sich im Recht zu tun, was nun folgen würde: Als er Kores leichtfüßigen Schritte vernahm und sie sich eben nach einer Narzisse bückte, um diese zu pflücken, da ließ der König der Unterwelt die Erde unter ihren Füßen aufbrechen. Hervor kam der finstere Hades, griff nach dem Mädchen und zerrte sie so schnell in seinen Wagen, dass niemand in der Oberwelt Augen hatte, die schnell genug gewesen wären, es zu beobachten. Nur ein einzelner, erschrocken verzweifelter Schrei nach ihrer Mutter gellte über die sonnige Blumenwiesen Siziliens, dann wurde Kore hinabgerissen in das Reich der Schatten. Der Boden über ihnen schloss sich lautlos, hinterließ keinerlei Spuren im irdenen Fleisch. Kore war dem Tageslicht geraubt geworden. Von nun an sollte sie den Namen Persephone tragen.
Schon bald fiel Demeter das Verschwinden ihrer Tochter auf. Überall fragte sie nach ihr, doch keiner hatte gesehen wohin das Kind verschwunden war. Auch Zeus schwieg. Er wollte sich um keinen Preis einmischen. Demeter, vor Verzweiflung halb verrückt geworden, durchwanderte das ganze Land, tauchte sogar hinab an die Gründe der Meere und begleitete Helios in seinem Sonnenwagen am Himmel. Doch nirgends eine Spur von ihrer Tochter.
Die Göttin vergaß ihre Pflichten, mochte ihnen gar nicht mehr nachkommen. Die Erde wurde unfruchtbar, das Klima kalt und der Frost kroch den Äckern allmählich ins Gebein. Die Menschen begannen zu hungern und zu frieren. Schon bald beklagte man die ersten Toten.
Aus Zorn darüber, dass die Götter sie offenbar aufgegeben hatten, begannen die Sterblichen sich gegen diese Ungerechtigkeit aufzulehnen. Die Altäre blieben verwaist und Tempel wurden zerstört. Ihre duftenden Opferfeuer erloschen und die kraftspendenden Gebete verstummten. Den Göttern wurde die Lebensenergie entzogen, denn ohne Menschen, die an sie glaubten – was waren sie dann? Hier brachten die meisterlichen Erzähler der Antike eine brisante Wahrheit ans Licht: Zwar waren auch sie ohne göttliche Zuwendung aufgeschmissen, doch ohne den Glauben der Menschen existieren auch die Götter nicht.
Das alarmierte die gesamte Schar der Unsterblichen. Lautstark verlangten sie von Zeus, dass dieser endlich etwas unternehmen solle, dass er Demeter zur Besinnung bringen müsse oder sie würden alle vergehen, zu Sternenstaub zerfallen!
Und Zeus, der bis dahin stur geblieben war, musste zähneknirschend nachgeben.
Mit dröhnenden Kopfschmerzen brach er auf, stieg unwillig hinab ins Totenreich und konfrontierte seinen noch ahnungslosen Bruder. Dieser war wie zu erwarten alles andere als begeistert. Hades liebte Persephone aufrichtig und er behandelte sie gut. Kein Haar hatte er ihr gekrümmt, keine einzige Berührung hatte er ihr aufgezwungen. Und sie, nachdem sie den ersten Schock der Entführung überwunden hatte und ihren „Gatten“ allmählich verstehen lernte, fühlte sich in ihrer neuen Rolle tatsächlich immer wohler. Auch fand sie Gefallen an Hades, seine grüblerische Schwermut und sein bodenständiger Realismus ergänzte ihr sonniges Gemüt, ihre Verspieltheit. Doch als sie Zeus‘ Bericht vernahm, da tat es ihr leid um die Menschen und noch viel mehr um ihre Mutter.
„Natürlich vermisse ich die bunten Vöglein und den Sonnenschein und die lustigen Töchter des Okeanos, die immerzu mit mir ihre Lieder sangen und mir duftende Blumen ins Haar flochten. Hier wächst nur grauer Affodill, der nach gar nichts riecht und nie hört man die Vögel. Aber vor allem vermisse ich meine Mutter und ich würde gerne gehen, um sie zu sehen. Sie soll nicht leiden, das zu hören grämt mich sehr!“
Hades, der es nur allzu gut verstand, was es bedeutete, der Sonne und der Liebe fern leben zu müssen, dem diese Dunkelheit seines Reichs nie lieb, lediglich verhasste Gewohnheit wurde, hatte Erbarmen und zeigte sich schließlich einsichtig. Seine persönlichen Bedürfnisse für das Gesamtwohl des Kosmos hinten anstellen zu müssen – das war von Anfang an sein Los gewesen.
Sie dürfe gehen, meinte Hades und als er sie zum Abschied noch einmal in den Arm nahm, da schob er ihr einen Granatapfelkern zwischen die Lippen. Es lag kein Zwang in dieser Tat, nur ein stummes Bitten. Und Persephone, die das Angebot verstand, schluckte die Süßigkeit willig. Wer einmal vom Essen der Toten gekostet hatte, den würde sie untrennbar mit der Unterwelt verbinden. Schließlich war auch das Essen ein Teil dieses Reiches und wer es zu sich nahm, der nahm einen Teil des Hades in sich auf, starb selbst ein wenig. Die Naturgesetze würden Persephone fortan wie ein Magnet dazu zwingen, stets hierhin zurückzukehren.
Erleichtert atmete Zeus aus. Der Göttervater mochte oft hart und fürchterlich sein, doch er war nicht herzlos. Auch er kannte Gefühle der Reue und des Mitgefühls. Wohl darum überließ er es Hermes, die Verlorene ihrer Mutter zurückzubringen.
Der kam dieser Aufgabe gerne nach. Hermes freute die Aussicht, Demeter dieses Geschenk zu überbringen, seine Anteilnahme am Schmerz der Göttin war stets groß gewesen. Jauchzend und frohlockend trug er Persephone nun schnell wie der Wind in seinem goldenen Wagen über das verödete, tiefgefrorene Land. Eine kalte Morgensonne leuchtete ihnen den Weg. Zusammengesunken fanden sie die trauernde Mutter, die Knie angezogen auf dem gefrorenen Boden im Schatten einer ihrer Tempel sitzend. Als sie Hermes freundliche Rufe vernahm und kurz darauf ihre Tochter erblickte, entfuhr ihr ein ungläubiger Schrei. Weinend stürzte sie an den Wagen heran, wo sie sich Persephone um den Hals warf und die heiter Lachende mit Küssen überhäufte.
Zu ihren Füßen, zwischen den nackten Zehen der vor Freude tanzenden Demeter, schoben sich junge, saftig grüne Pflanzenkeime vorsichtig aus dem grauen, kränkelnden Schnee.
Auch dieses Motiv ist im Himmel verewigt. Im ausklingenden Februar, wenn die Sterne der Jungfrau am Horizont erscheinen, wenn Persephone aus dem Totenreich zu ihrer Mutter emporsteigt, beginnt die Welt sich langsam der Umklammerung des Winters zu entwinden. Schließlich, wenn die letzten Lichter dieser Konstellation im September wieder versinken, ist auch Persephone gezwungen, zu ihrem Gatten zurückzukehren, dem sie für drei Monate treue Gesellschaft leistet. Da beginnt die Trauer Demeters von Neuem, ihre Wunden die nicht heilen können, lassen die Blätter sterben, die Blumen welken, die Erde erstarren und der Winter kehrt zurück.
INFOBOX:
Inzest ist ein häufiges Motiv in den griechischen Mythen und während er unter Göttern kaum Aufsehen erregte, war er unter den Sterblichen dennoch geächtet. Das Motiv des menschlichen Helden Ödipus stellt diese Tatsache beeindruckend zur Schau. Als er und Iokaste erfahren, dass sie Mutter und Sohn sind, erhängt sich die Königin aus Scham und Ekel ihrem eigenen Sohn vier Kinder geboren zu haben. Ödipus, der ihre Leiche findet, sticht sich in seinem Schmerz daraufhin selbst mit den Spangen ihrer Kleider die Augen aus.
Daher kann man nach der Meinung dieses Erzählers annehmen, dass der göttliche Inzest eine metaphorische Bedeutung einnahm und nicht als ein gesellschaftliches Idealbild der Griechen oder als tabuisierte Fantasie der Mächtigen zu deuten ist. Ein Gott ist mehr als nur eine mythische Person, er repräsentiert auch immer einen Teilbereich der kosmischen Wirklichkeit und nach Auffassung der Griechen waren gewisse Aspekte der Welt untereinander “verbrüdert”, sich artverwandt. Ihre Macht ist Synonym mit den Vorgängen in der Natur, göttliche Existenz war demnach tagtäglich real erlebbar.
Wenn nun der Wettergott Zeus, der die soziale sowie auch “natürliche” Ordnung verkörperte, sich seiner Schwester Demeter aufzwingt, so verschmilzt er mit ihr und zähmt das ihr innewohnende Chaos. Aus einer ziellosen Fruchtbarkeitsgöttin wird eine Göttin, die vor allem in der Landwirtschaft dient, aber auch eine Göttin der geordneten Jahreszeiten. Somit strukturiert Zeus die Welt und installiert eine göttliche Ordnung, dem das menschliche Leben unterworfen ist. Natürlich rechtfertigt dies in keinster Weise das Verhalten der mythologischen Person Zeus, sie umschreibt vielmehr den psychologischen Impakt, den gewisse Prozesse der sie umgebenden Welt auf die Menschen damals hatte.
Ganz offensichtlich wurden diese nicht immer als gewaltlose Harmonie erfahren. Nicht nur am Himmel, auch in den Menschen selbst spiegeln sich ihre Mythen wider: Der Bauer, der einen Acker anlegen will, verkörpert Zeus‘ Ordnungswille, ist vom Gott selbst beseelt, sehnt sich nach einer (Ver)Einigung mit der Erde. Die mühselige, schmerzhafte und scheinbar endlose Plackerei das Land mit einfachen Werkzeugen zu bestellen kann damit durchaus als Widerwillen der Natur gedeutet werden. Nicht freiwillig fügt sie sich dieser neuen Ordnung, der Boden muss gezähmt und der Acker aus ihm heraus gezwungen werden. Die Menschen empfinden dabei sogar vielleicht etwas wie Schuld: Zeus vergewaltigt Demeter.
„Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen!“ – auch Jahwe prophezeit der Menschheit durch Adam ihr künftig bäuerliches Schicksal jenseits von Eden und macht sie dabei gleichzeitig zum Werkzeug seiner Ordnung.
Foto: Vito Technology