29. März 2024
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Sternbild Wassermann

© VitoTech
Lesedauer ca. 8 Minuten

Jede Nacht überspannt uns ein Zelt, aus dunklem Samt gewoben und von trilliarden Lichtern durchwirkt. Seit Urzeiten regt dieses kühle Funkeln unser Suchen und Fragen an. Wie in einem gigantischen Bilderbuch finden wir dort oben die Abbilder der Protagonisten aus Erzählungen, deren Autoren selbst längst zu Staub zerfallen sind. Ein jedes Sternbild hat seine Geschichte, ist konservierte Erzählkunst. Hier soll dazu eingeladen werden, einige dieser himmlischen Piktogramme zu entstauben und sich von ihnen auf eine Zeitreise durch menschliches Träumen leiten zu lassen.

Das Sternbild Wassermann ist äußert vielschichtig und daher besonders interessant. Zunächst verkörpert es all jene Helden, die einst die Sintflut überlebten – von denen Noah und seine Familie nur ein Beispiel sind. Denn antike Sintflutmythen aus dem Mittelmeerraum gibt es viele – die meisten davon weit älter als die biblische Version. Und sie alle ähneln sie sich auf geradezu frappierende Weise!

Die Geschichte ist auch einfach zu gut! Sie wurde daher, ein paar Detailfragen mal beiseitegeschoben, immer nach demselben, bekannten Schema erzählt: Eine oder mehrere Gottheiten beschließen, die Menschen buchstäblich vom Antlitz der Welt zu spülen. Schuld daran sind diese selbst: Mal lassen sie es an Frömmigkeit und Nächstenliebe vermissen, mal machen sie den Göttern einfach zu viel Lärm. Doch immer erregt ein Individuum und seine Familie göttliches Mitgefühl. Den Todgeweihten wird in letzter Sekunde zur Hilfe geeilt und unter den teils minutiös-pedantischen Anweisungen ihrer Schutzherren überleben die Auserkorenen den wohl schlimmsten Massenmord der Weltgeschichte – und dürfen sich tags darauf gleich munter an die Aufgabe der „Wiederbevölkerung“ machen: Es könnte wohl schlimmer sein.

Dabei irritieren der Sinneswandel, die extreme Gewaltbereitschaft und die schlussendliche Inkonsequenz des göttlichen Handelns den Bibelleser wohl etwas mehr, als die Anhänger polytheistischer Glaubensvorstellungen: Letztere waren schließlich an die Vielfalt von himmlischen Meinungen, Gefühlen und Intrigen gewöhnt. Doch sollte man an dieser Stelle selbst dem Einzeltäter Jahwe mildernde Umstände zugestehen – immerhin musste dieser von den Bibelautoren erst mühsam aus einem schillernden Götterkosmos herausdestilliert werden, bevor er seine Karriere als einsamer, doch eifersüchtig herrschender Despot antreten konnte.

Und mindestens eine solche verheerende „Mittelmeerflutung“, welcher zahllose Menschen zum Opfer fielen – davon sind sich auch heutige Forscher überzeugt – hat es wohl tatsächlich gegeben. Die erschütternden Berichte der traumatisierten Zeitzeugen wurden über Jahrhunderte hinweg in der Form von verstörenden Mythen und Legenden am Leben erhalten. Ein imposantes Mahnmal daran, wie hilflos ausgeliefert der Mensch trotz all seines Genies den Naturgewalten – und somit den Göttern – letztendlich bleibt.

Wahrlich: Ein solches „memento mori“ musste selbst auf der Weste eines Gottes vom Format Jahwes unvermeidbar ein paar Flecken hinterlassen.

Ein zweiter Mythos um den Wassermann erzählt vom griechischen Jüngling Ganymed.

Zeus verliebte sich in den schönen Knaben Ganymed und entführte ihn in Gestalt eines Adlers. Je nach Version entwendete Zeus den Knaben, als dieser gerade seine Herde an den Hängen des Berges Ida hütete oder aber er stahl ihn der Göttin Eos aus ihrem Gemach, nachdem diese ihn zuvor selbst gekidnappt hatte. Eos, bei den Römern Aurora genannt, war die Göttin der Morgenröte und bekannt dafür, eine notorische Schwäche für Jünglinge zu besitzen – die sie selbst gerne raubte. So oder so war es schlussendlich Ganymeds Schicksal im Palast des Olymps dem Wolkensammler als Mundschenk und Lustknabe zu dienen.

Zu guter Letzt sei auch die Sage von Kekrops mit dem eher unauffälligen, dunklen Sternbild “Aquarius” verknüpft.

Um bei ihm anzugelangen müssen wir, wie schon bei der Sintflutgeschichte, bis weit in die Gefilde mythischer Vorzeit zurückblicken.

Kekrops’ Mutter war die rote, fruchtbare Erde der Attika-Region. Somit ist er ein Sohn Gaias, der Ahnin allen Lebens. Denn Gaia ist die Erde selbst – unser Planet, wenn man so will. Sie, die Mutter der Titanen und Großmutter der Götter, bedarf keines Gatten um zeugen zu können, denn Gaia ist die Schöpfungskraft selbst, die Urweiblichkeit. Und wenn Gaia es will, so kann sie aus sich selbst heraus erschaffen, ganz ohne männliches Zutun.

Diese Erdverbundenheit des Kekrops, diese direkte Abstammung aus dem Lehm, zierte auch seinen Körper und machte ihn zu einem Mischwesen: Sein Unterleib war der einer Schlange, schuppig und gewunden, geziert von mäandernden Mustern und köstlichem Glanz.

Von den Hüften aufwärts aber war “der Geschwänzte” ganz Mensch und im Teint seiner scheinbar alterslosen Haut fand sich das Rot seiner Muttererde wieder.

© Shutterstock

Diese Zweigestalt ist dabei keineswegs zufällig gewählt: Schlangen wurden nicht nur als schädliche oder unheilbringende Wesen gesehen. Durch ihre naturgegebene Erdnähe betrachtete man sie auch als Hüterinnen uralten Wissens und man schrieb ihnen Unsterblichkeit zu, denn durch den Häutungsprozess schienen sie sich offensichtlich ständig wieder zu „verjüngen“. Viele Kinder Gaias besitzen daher Schlangenelemente.

Anfangs lebte Kekrops, der „Urmensch“ alleine, unter den wilden Tieren, auf den Bergrücken und in den Wäldern seines Geburtsortes, erfreute sich an ausgedehnten Wanderungen, am Rauschen der Winde, am Bad im klaren Wasser und an den zahlreichen Früchten der Bäume und Sträucher. War ihm nach Gesellschaft, so unterhielt er sich mit seiner Mutter, lauschte ihrem tiefen, dunklen Summen. Worte so zeitlos und wahr, dass sie ewig klangen. Oder aber er suchte die Nähe von Nymphen, Satyrn oder geringeren Gottheiten und Naturgeistern wie sie in Flüssen oder Bäumen lebten.

Bis er eines Tages den Menschen begegnete.

Damals waren sie noch wild und in Felle gekleidet. Sie lebten nicht in Häusern und streiften, rastlos wie die Tiere die sie jagten, stets umher

Dennoch erkannte Kekrops in den Menschen einen ihm verwandten Geist.

Doch hatte er, der so lange nichts anderes zu tun hatte, als zu grübeln und dem Atem seiner Mutter zu lauschen, eine stoische Seelenruhe erreicht, eine chronische Unaufgeregtheit. Oder aber ihr Gegenteil nie wirklich je erlebt.

Diese entrückte Position, dieses sturmbefreite Innenleben mochte es gewesen sein, das ihn dazu bewog, in der Wildheit der Menschen einen Makel zu sehen und keinen in sich geschlossenen Einklang. Kekrops dauerte um das ungenutzte Potenzial der Menschen. Welche Größe könnten diese Wesen wohl erreichen, würden sie nur ihre Triebe zähmen und sich der Vernunft hinwenden!

So beschloss der Erdensohn Hirte dieser Wesen zu werden, ein Lehrmeister und Führer, der sie domestizieren und dadurch zu besseren Kreaturen machen würde.

Mit der Tiefe seiner Weisheit und der Schärfe seines Verstandes gelang es ihm auch mühelos, die verstreuten Wildbeuter unter seiner Führung zu einen. Er versammelte sie schließlich auf einer Erhebung, die sich hoch über das umliegende Brachland erhob und den Namen Akropolis erhielt. Dort oben wurde von jedem Mann und jeder Frau und jedem Kind ein Felsstück in die Mitte eines Kreises geworfen. Diese 20.000 Steine legten die Grundsteine der Festung Kekropeia, in der ihr Namensgeber fortan als König und Mentor über die sich um sie herum formierende Stadt herrschte.

Kekrops wirkte von da an als ein kulturstiftender Heros: Mit ihm soll laut den Legenden das “menschenwürdige” Leben in der Attika begonnen haben. Seine kulturellen Installationen waren zahlreich und hatten allesamt das Ziel, den Menschen zu bessern. Beispielsweise führte er die Ehe ein. Die zuvor frei gelebte, weitgehend besitzanspruchslose Sexualität der Menschen war ihm ein Sinnbild des Chaos und mithin Grund für die Unordnung des menschlichen Verstandes. Durch das Einführen des klassischen Beziehungs- und Familienbildes hoffte Kekrops daher, zur Ordnung und Disziplinierung des menschlichen Naturells beizutragen.

Des Weiteren führte Kekrops verschiedene staatliche, öffentliche Einrichtungen ein, sowie das Recht auf Besitz von Grund und Boden oder dem Verbot von Menschenopfern.

Den Göttern blieb diese Stadtgründung indes nicht lange verborgen. Besonders Athene und Poseidon zeigten ein großes Interesse an der neuen Siedlung. Beide wären sie gern zum Schutzpatron der Stadt geworden, denn die Tempel der Menschen würden ihren Ruhm unter den Menschen und somit ihre Macht über sie mehren. Poseidon und Athene konnten sich allerdings nicht sonderlich leiden und so war Uneinigkeit vorprogrammiert. Keiner gönnte dem anderen einen solchen Vorteil.

Also traten die beiden Olympier an Kekrops heran: Schließlich war es seine Stadt. Ungeduldig und gereizt verlangten sie vom König, ein Urteil zu fällen und Kekropeia unter die Schirmherrschaft seines persönlichen Favoriten zu stellen. Doch der gewitzte Kekrops war klug genug, sich keine der beiden Gottheiten zum Feind zu machen – und aus ihrem Zwist einen Vorteil zu schlagen. Listig senkte er sein Haupt voll scheinbarer Demut und sprach mit weicher Stimme:

“Große Ehre wird mir zuteil, denn gleich zwei der nobelsten Olympier wünschen die strahlende Kekropeia unter ihren glorreichen Schutz zu wünschen! Doch zu wählen ist mir schlicht unmöglich, denn steht mir solches, selbst als König, nicht zu. Schließlich sind es die Menschen, denen ich das Geschenk dieser Stadt machte und so sollen auch sie es sein, die darüber verfügen. Ich rate euch beiden Unsterblichen: Gewährt auch ihr den Menschen ein Geschenk, denn Geschenke lieben sie sehr! Eine Wahl soll es dann zeigen, welche der göttlichen Gaben die bessere sei!”

Die Götter waren einverstanden. Und während Athene augenblicklich in tiefes Grübeln versank, huschte ein siegessicheres Grinsen über das Gesicht des Meeresgottes.

Er sah in den jungen Menschenmänner das Ebenbild seines Neffen Ares, dem Gott des Gemetzels, der den Wettkampf und das Töten liebte. So schenkte er den Menschen ein Bad aus Salzwasser, aufdass sie sich darin körperlich ertüchtigen mögen und erschuf das Pferd. Beides zu dem einzigen Zwecke, in jener an Kriegen wahrlich nicht armen Zeit, besser als der Gegner vorbereitet zu sein.

Die Männer bejubelten die Gaben des Erderschütterers, doch die Herzen der Frauen konnte Poseidon damit kaum erwärmen. Viele grollten ihm sogar insgeheim ob dieser Gaben, denn was war der Krieg denn mehr, als ein wildes Tier, das ihre Gatten und Söhne verschlang.

Inzwischen war auch Athene ein Einfall gekommen: Gelassen spazierte sie vor der versammelten Menschenmenge auf die Akropolis, kniete sich nieder und hob einen kleinen, runden Kiesel hoch. Mit beiden Händen formte sie eine Schale um das Steinchen, hob es an ihre Lippen und hauchte ihm ihren göttlichen Atem ein. Dann grub sie eine Mulde in die Erde, legte den Kiesel hinein, bedeckte und goss ihn. Sogleich spross ein Keim hervor, der in Windeseile höher und höher wuchs. Der Stiel verhölzerte zum Stamm, dicke, knorrige Wurzeln barsten krachend den Boden auf, Blätter sprossen raschelnd aus den Zweigen und formten eine Krone um den entstehenden Baum, der in der Hitze Griechenlands süßen Schatten spendete.

Zwischen den Blättern funkelten kleine, runde Früchte wie schwarze Perlen im Lichte des Helios. Athene hatte den Menschen den aller ersten Olivenbaum gepflanzt.

Kekrops erklärte den göttlichen Wettstreit hernach für beendet und rief die Menschen nun dazu auf, an Hand der gemachten Geschenke zu wählen, welche Gottheit der bessere Stadtpatron wäre.

Derr Ausgang dieser Wahl war denkbar knapp:

Mit nur einer Stimme Mehrheit, die übrigens von den Frauen herrührte, entschied die Göttin der Weisheit den Wettstreit für sich – Die Stadt wurde zu Ehren ihrer Gönnerin in Athen umbenannt. Fortan sollte die Göttin auch eine tiefe Verbundenheit zu ihrem König, Kekrops, pflegen, der ihr gefiel und dessen Klugheit ihr imponierte. Zeitlebens wachte sie über den Herrscher und intervenierte, nicht immer zu dessen Freude, in sein Familienleben.

Aber Poseidon war außer sich. Es widerstrebte ihm zutiefst, die Stadt seiner Nichte überlassen zu müssen. Könnte er nicht über diese Menschen herrschen, so würde es niemand tun. Er, der Herrscher über den Ozean, Vater der Erdbeben, war ganz wie sein wässriges Reich aufbrausend, furchteinflößend und unberechenbar. In seiner Wut über den verletzten Stolz erzeugte Poseidon eine gigantische Flutwelle, dessen Wassermassen die gesamte Attika fluten und die Stadt mit ihren Menschen hinwegfegen würde. Doch Zeus hinderte ihn. Donnernd stieß er vom Olymp herab auf die Akropolis, um Poseidon zu mäßigen. Die Wahl war fair, das Ergebnis bindend: Sein Bruder müsse sich an das Urteil halten – ob es ihm nun gefiel oder nicht. Würde er seine Wut nicht zähmen, so sähe Zeus sich gezwungen ihn mit einem seiner Blitze niederzustrecken. Doch Poseidon dachte nicht daran, ganz so einfach nachzugeben. Trotzig hielt er an seinem Vorhaben fest. Es war ohnehin zu spät, behauptete der Zürnende. Nur er könne die Flut noch stoppen, dessen gischtgekrönter Wellenturm bereits am Horizont erschien. Und selbst wenn Zeus ihn hier und jetzt erschlage, Athen würde vernichtet.

Erst nachdem man ihm eiligst wie widerwillig versprechen musste, fortan und für alle Zeit nie wieder eine Frau an die Wahlurne herantreten zu lassen, gab Poseidon selbstgefällig nach und ließ die anrollenden Wassermassen zurück in das Meeresbecken fließen. Ein bitterer Preis für göttlichen Frieden.

INFOBOX:
Ganymed – so heißt auch einer der Eismonde des Planeten Jupiter. Dieser von Galileo Galilei im Jahre 1610 entdeckte Mond ist zugleich auch der größte Trabant unseres Sonnensystems. Übrigens sind alle Monde des Gasriesen nach den Liebschaften des Gottes Jupiter bzw. Zeus benannt – weitere Beispiele wären Europa und Io.
Am Kekrops-Mythos ist überaus interessant, wie präzise dieser Zivilisation vom „wilden Leben“ trennt: Aus der jüngeren Forschung weiß, sind die Auswirkungen nahezu aller Reformen, die auch von Kekrops durchgesetzt wurden – wie etwa ein Verständnis von Besitz, Krieg, Despotismus, Monogamie und (wenn auch in diesem Fall „erzwungenermaßen“) Misogynie, Konzepte, die unseren „wilden“ Vorfahren weitestgehend fremd waren. Und manches davon wäre uns wohl besser auch fremd geblieben. Nicht von ungefähr also das Bild der „bösen“ Schlange, die mit ihrer – wenn auch in diesem Fall gut gemeinten – Verführungskunst Unheil über die Menschen und insbesondere über die Frauen brachte.
Für alle, die sich nun selbst gerne auf die Suche nach den Sternbildern machen möchten, empfehle ich die App “Star Walk 2” für Smartphones und Tablets, oder eine klassische, drehbare Sternenkarte aus Karton. Ansonsten kann man auch über folgenden Link völlig kostenfrei über den Himmel navigieren!
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Pascal Takes

Pascal trat dem Team im November 2019 bei. In Inzing ist er außerdem Mitglied des Kulturvereins und Mitarbeiter in den Kinder- und Jugendbetreuungseinrichtungen. Besonders interessiert er sich für Sprachen, Evolutions- und Kulturgeschichte. Eine Welt ohne Halbwissen wäre Pascal's Überzeugung nach einer Welt ohne Hass. Im Dienste dieser Überzeugung versucht er wirksam sein.

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