John Ironmonger: Der Wal und das Ende der Welt (orig.: Not Forgetting the Whale, dt. von Maria Poets und Tobias Schnettler)
Es war einmal ein Dorf am äußersten Zipfel von Cornwall… Im Erzählton von Märchen beginnt die Geschichte vom kleinen Dorf Piran und dem Ende der Welt.
Ein nackter junger Mann wird an den Strand angespült. Wollte er sich umbringen? Hatte er einen Unfall? Einige beherzte DorfbewohnerInnen kümmern sich um den jungen Mann namens Joe. Wenige Tage später strandet ein riesiger Wal an derselben Stelle. Joe gelingt es, die Kräfte der Dorfbewohner zu bündeln und schafft es mit ihnen, den Wal ins Meer zurück zu befördern.
Soweit klingt es wie aus der Zeit gefallen, doch dann erfahren wir etwas von Joes Vorgeschichte und davon, was ihn zur Flucht aus seinem Leben als gut bezahlter Analyst einer Investmentbank in der Londoner City getrieben haben könnte und plötzlich sind wir zurück in der High-Tech Gegenwart. Joe ist Mathematiker und tüftelt an Software, die Berichte aus aller Welt verknüpft und daraus Vorhersagen für wirtschaftliche Entwicklungen der nächsten 1-2 Tage errechnet. Auf deren Basis spekulieren die Händler der Bank auf Unternehmenspleiten und verdienen damit Riesensummen.
Doch der alte Besitzer der Bank will noch mehr wissen: Welchen längeren Verlauf wird unsere aktuelle Weltverfasstheit nehmen? Vier Szenarien stehen zur Auswahl und das wahrscheinlichste ist der totale Zusammenbruch, wenn mehrere Krisen überlappen. Joe macht sich an die Arbeit und das Programm wird immer treffsicherer.
Und hier wird es einem beim Lesen direkt unheimlich: In dem – vor 2014 geschriebenen – Roman kommt der Zusammenbruch, weil Lieferketten brechen aufgrund einer Ölkrise mit Krieg in der Golfregion und weil eine Grippepandemie ähnlich der von 1918 ausbricht!
Joe hat im Dorfpub, dem einzigen Platz mit halbwegs verlässlichem WLAN, noch einmal seine Software aufrufen können und weiß, der Kollaps steht kurz bevor. Er startet riesige Vorratskäufe in den Kleinstädten der Umgebung. Sein Plan: wenigstens dieses eine Dorf zu retten, das ihn gerettet hat. Sehr schnell muss er erkennen, dass er das nicht als einsamer Held, sondern nur mit Hilfe der Dorfbewohner schaffen kann. Er findet rasch Verbündete und überwindet mit deren Hilfe Misstrauen, persönliche Animositäten und praktische Schwierigkeiten.
Und dann bricht die gewohnte Welt wirklich zusammen. Und hier nimmt sich der Autor den Raum, diesen Untergang abwechselnd aus religiöser und aus rational-analytischer Sicht zu betrachten. Aber das ist kein klassischer Katastrophenroman, sondern ein spannendes und berührendes Gedankenspiel über das Verhalten von Menschen in einer schweren Krise.
Die Zeiten sind hart und unsicher, aber das Dorf hält monatelang durch, weil jeder und jede mithilft, Brennholz, Arbeitskraft, Lebensmittel, Kerzen beiträgt. Aus anderen Orten kommen Horrormeldungen von vielen Toten und verhungernden Überlebenden.
Wird das Dorf Piran überleben oder ist das wirklich das Ende der Welt? Lesen Sie selbst!
Wer Cornwall nur von den Rosamunde Pilcher Verfilmungen kennt, bekommt es hier mit einer raueren, ärmlicheren Gegend zu tun. Sie ist bevölkert von einer großen Anzahl an glaubwürdigen, tatkräftigen und kauzigen Figuren. John Ironmonger spielt mit Namen: Joe heißt eigentlich Jonah (ja, wie der mit dem Wal aus der Bibel); das Computerprogramm ist nach Cassandra, der Enkelin des Bankenchefs, benannt und teilt mit der Prinzessin aus dem trojanischen Krieg das Schicksal, Unheil vorherzusagen, das man ihr nicht glaubt. Mit geschickt eingefügten Vor- und Rückblenden und unterschiedlichen Erzählstilen für die jeweiligen Schauplätze schafft der Autor ein täuschend leicht lesbares Buch mit einigem Tiefgang und viel Spannung – man kann es kaum aus der Hand legen!