21. November 2024
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Sternbild Zwillinge

© Vito Technology
Lesedauer ca. 8 Minuten

Jede Nacht überspannt uns ein Zelt, aus dunklem Samt gewoben und von trilliarden Lichtern durchwirkt. Seit Urzeiten regt dieses kühle Funkeln unser Suchen und Fragen an. Wie in einem gigantischen Bilderbuch finden wir dort oben die Abbilder der Protagonisten aus Erzählungen, deren Autoren selbst längst zu Staub zerfallen sind. Ein jedes Sternbild hat seine Geschichte, ist konservierte Erzählkunst. Hier soll dazu eingeladen werden, einige dieser himmlischen Piktogramme zu entstauben und sich von ihnen auf eine Zeitreise durch menschliches Träumen leiten zu lassen.

Obwohl das Motiv der Zwillinge sich rund um den Erdball hundertfach durch allerlei Geschichten zieht, wird mit dem gleichnamigen Sternbild nach Kenntnis des Autors nur ein einzelner Mythos verknüpft. Jene Geschichte ist auch im lateinischen Namen der beiden hellen, gut sichtbaren Hauptsterne der Konstellation “Geminis” verewigt: Castor und Pollux. Manchen ist auch das geflügelte Wort „Wie Castor und Pollux“ noch in heutigen Tagen eine Umschreibung für brüderlichen Zusammenhalt und Unzertrennlichkeit.

Während sich im Griechischen nur die Schreibweise Kastors ändert, rief man Pollux im Original hingegen Polydeukes.

Entrollt man eine Landkarte Griechenlands, so fällt einem schnell seine große Halbinsel ins Auge, die wie eine gespreizte, vierfingrige Hand im Mittelmeer ruht. Sie trägt den Namen Peloponnes und war in der Antike in mehrere Königreiche unterteilt. Das südlichste davon, Lakonien, umschloss die beiden mittleren Finger und war zudem das Mutterland Spartas.

In dieser Stadt herrschte Tyndareos, dessen Gemahlin Leda war.

Der Gott Zeus verführte sie, die Geschichte ist bekannt, in Form eines Schwanes. Irgendwo an den malerischen Hängen des Taygetos schliefen sie miteinander, ein Lager mit Meeresblick. Jenes Gebirge trennte zudem Lakonien vom Nachbarkönigreich Messenien, der westlichsten Landzunge der Peninsula.

Kein Zufall war es, dass eine solche Hochzeit in der Wildromantik jener Landschaft vollzogen wurde. Noch lange erzählten sich die Altvorderen von großen Schwärmen dieser imposanten Wasservögel, die zu bestimmten Jahreszeiten die Gipfel jener Bergkette überflogen.

In Erinnerung an diese Vermählung wurde auch der Schwan zu einem Sternbild gemacht. In dieser Gestalt überfliegt er die Menschen in nahezu jeder Nacht des Jahres.

Leda gebar die gemeinsamen Nachkommen nicht wie eine Menschenfrau, in der Gestalt von Vogeleiern entschlüpften sie dem Mutterleib.

Aus einem der Eier kamen die Brüder Kastor und Polydeukes hervor, aus dem anderen ihre jüngeren Schwestern, die schöne Helena von Sparta und Klytaimnestra, der späteren Gattin und Mörderin des Königs Agamemnon.

Leda aber war die Ehefrau des sterblichen Königs Tyndareos und als solche teilte sie ihr Bett des Nachts mit ihm. Daher war Kastor sterblicher, Polydeukes hingegen göttlicher Abkunft. Nichtsdestotrotz nannte man das Brüderpaar die „Dios kuroi“, kurzum Dioskuren, was “Söhne des Zeus” bedeutet.

Man erzählte sich allerlei Abenteuergeschichten über die beiden, beinahe könnte man in ihnen ein antikes Pendant zu Terrence Hill und Bud Spencer sehen.

Beides unverbesserliche Hitzköpfe machte sich Kastor einen Ruf als unvergleichlicher Rossebändiger, während Polydeukes  als Faustkämpfer gefürchtet wurde.

Eine Zeit lang waren die Dioskuren auch Teil der Argonauten – so genannt, weil sie mit Jason und seinem sprechenden Schiff, der Argo, auf Raubzug gingen. Ziel dieser Reise war es, das goldene Vlies zu finden, doch fand die hochkarätige Crew – auch Herakles und der Sänger Orpheus waren unter ihnen – erst über viele irrtümliche Zwischenstationen zum Ziel.

So unterhaltsam diese Erzählungen auch wären, so sind sie nicht Kern dieser Geschichte und wir müssen uns damit begnügen, die Planken der Argo nur für einen Moment mit unseren Gedanken zu streifen.

Mit den Taschen voller Reichtümer kehrten die Brüder von ihrer Plünderfahrt nach Hause zurück. Dort erkauften sie sich mit einem Teil der Beute die Zustimmung Leukippos’ dessen beide Töchter ehelichen zu dürfen. Leukippos war König von Messenien und der Halbbruder des Tyndareos. Somit waren seine Töchter Phoibe und Hilairea die Cousinen der spartanischen Dioskuren. Auch sie waren Zwillinge.

Nun verhielt es sich allerdings so, dass in Lakonien, der Heimatprovinz des Stadtstaates Sparta, der Brauchtum des Frauenraubs angeblich besonders verbreitet war. Es handelte sich hierbei um eine tatsächlich gültige Form der Vermählung, die den mythischen Raub der Persephone zum Vorbild hatte und dadurch geheiligt war. Persephone wurde vom Gott Hades in die Unterwelt verschleppt, wo er sie zu seiner Braut machte.

Leukippos, vom Goldsäckel der Brüder überzeugt, stimmte dem zu und so, ganz wie es der Sitte entsprach, stürmten die Söhne Ledas  auf geschmückten, prunkvollen Streitwägen in die Stadt. Wer weiß, ob die Mädchen ahnungslos waren oder ob sie in ihre rituelle Entführung eingeweiht waren. Wie so oft, ist die weibliche Seite der Geschichte eine Stumme.

Die Schwestern hielten sich jedenfalls  gerade im Bezirk der Aphrodite auf, wo sie gemeinsam mit ihren Freundinnen “spielten”, als sie von den Dioskuren auf ihre Wägen gezerrt wurden.

Obwohl diese „Hochzeit“ von den Götter Zeus und Aphrodite überwacht, sowie von beiden Vätern anerkannt wurde, bedeutete sie für das Brüderpaar den Anfang vom Ende.

Kastor und Polydeukes hatten, wie sollte es auch anders sein, zwei Vettern die ebenfalls Zwillinge waren. Diese waren die Söhne des Aphareus, ein Bruder des Leukippos und kamen gleichfalls aus Messenien.

Es wurde aber auch gemunkelt, dass ihr Vater kein geringerer war als der Bruder des Zeus, der Meeresgott Poseidon.

In der Tat war das messenische Brüderpaar mit übermenschlichen Fähigkeiten gesegnet. So soll Idas von riesenhafter Gestalt gewesen sein, ein wahrer Hüne, dessen Pfeile nie ihr Ziel verfehlten und von dem man sagte, er sei der stärkste Mensch auf Erden gewesen. Sein Bruder Lynkeus, „der Luchsäugige“, besaß eine Art Röntgenblick, der tief ins Fleisch der Erde dringen konnte.

Eigentlich waren ihnen die Töchter ihres Onkels unter Eid versprochen gewesen. Doch, wie wir erfuhren, bestachen die Dioskuren den Leukippos, der daraufhin Vertragsbrüchig wurde.

Einige Zeit später hielt man am Hofe Tyndareos ein großes Fest, denn Helena hatte Menelaos zu ihrem Gatten gewählt. Auch exotische Gäste waren zugegen: Eine Gesandtschaft aus dem fernen Troja nahm an den Festlichkeiten teil.

Dort zechte und feierte man ausgelassen, bis plötzlich Idas und Lynkeus, die ebenfalls zu Gast waren, betrunken und verärgert damit begannen Helenas Brüder, die Dioskuren zu verhöhnten. Noch lange hatten sie die Schmach des Frauenraubs nicht vergessen und nun hielten sie es den Dioskuren vor.

Es kam zur Streiterei, bei denen die spartanischen Zwillinge ihren Vettern drohten, ihnen auch noch das gesamte Vieh zu stehlen. Daraufhin verließen sie die Feier um ihre Drohung in die Tat umzusetzen.

Dabei ließen sie ihre Schwester Helena ohne Aufsicht, auf die sie gerade bei solchen Anlässen ein strenges Auge haben sollten. Die schönste aller sterblichen Frauen genoss die Macht, die ihr Körper ihr verlieh. Schon ein Mal mussten ihre Brüder sie zurückbringen, als sie mit dem berühmten Heros Theseus durchgebrannt war.

Und an jenem Abend, zusammen mit weiteren Trojanern, befand sich der junge, hübsche Prinz Alexandros unter den Feiernden. Alexandros, den man auch Paris nannte und dessen Verführungskünste berüchtigt waren. Die Geburtswehen des trojanischen Krieges erreichten ihren Höhepunkt just in dem Moment, als die Tür hinter Kastor und Polydeukes ins Schloss fiel.

Die Dioskuren wussten, dass ihre Cousins ihnen folgen würden. Und sie wussten, dass es nach diesem Streit keine friedliche Versöhnung mehr geben konnte. Die Ehre beider Parteien war verletzt worden. Dennoch wollten sie ihren Racheplan in die Tat umsetzen. Also versteckte Kastor sich in einem Baumstumpf, um die Nachzügler aus dem Hinterhalt zu erschlagen. Polydeukes aber ging voraus, um die Rinder zusammenzutreiben.

Vielleicht war es dem Weinrausch zu verdanken, vielleicht aber auch ihrer Ignoranz. Doch die Zwillinge vergaßen welch göttliche Macht die beiden Messenier besaßen.

Diese waren ihnen tatsächlich in einiger Distanz gefolgt. Vom höchsten Punkt am Pass über den Taygetos aus, blickte Lynkeus in die messenische Ebene hinab und fand den Kastor zusammengekauert im ausgehöhlten Baumstumpf. Unheilvoll grinsend deutete er Idas die Stelle. Und Idas erwiderte sein grimmiges Lächeln, während er seinen Bogen spannte. Seine Pfeile verfehlten nie ihr Ziel. Auch dieser würde es nicht.

Lautlos sprang das Geschoss von der surrenden Sehne, durchbohrte pfeifend die Luft und fand zielgenau das Herz des sterblichen Kastors, der Kilometerweit entfernt gesessen hatte. Polydeukes vernahm den gellenden Todesschrei seines Bruders. Sofort machte er kehrt und konnte nur noch den leblosen Leib seines Zwillings aus dem Baumstrunk zerren. Heiße Tränen der Trauer und des Zorns strömten über sein Gesicht. Wutentbrannt nahm er die Verfolgung auf.

Am Grabmal das Aphareus, dem Vater der Messenier, holte Polydeukes die Mörder schließlich ein. Seinen mächtigen Speer schleuderte er dem Lynkeus entgegen. Dieser bohrte sich durch seinen Hinterkopf und sprang mit der Spitze zwischen den Zähnen des fliehenden wieder hervor. Die ewige Dunkelheit umnachtete seinen scharfen Blick.

Rasend vor Zorn riss Idas das steinerne Grabmal seines Vaters aus der Erde und schleuderte es Polydeukes entgegen.

Zeus, der alles beobachtet hatte, wollte eingreifen, doch sein Blitz traf Idas zu spät. Polydeukes wurde vom Wurfgeschoss des Idas zermalmt. Drei Erschlagene lagen dort am Totenacker, starben einen sinnlosen Tod.

Zeus, in väterlicher Liebe um seinen Sohn, kam vom Olymp geeilt, gerade noch rechtzeitig um die Seele des Polydeukes daran zu hindern, in die Unterwelt hinabzusinken. Der Gott machte ihm ein Angebot, dass so als einziger nur Herakles noch erhalten sollte: “Geliebter Sohn, in die Seele biss es mir, als ich sehen musste, wie des Idas Kraft dich zermalmte. Nun liegt er da und qualmt, wie es dem Narren gebührt, doch auch dir will die Seele in den Hades entfliehen. Davon will ich nichts wissen, denn von vielen meiner Söhne bist du mir einer der Liebsten. Groß waren die Taten deren du dich rühmen darfst. Fass nun meine Hand, Sohn, und werde ganz deinen himmlischen Brüdern und Schwestern gleich. Als Gott sollst du in meinem Palast die Ewigkeit bewohnen!” Polydeukes, den Blick zum Boden gerichtet, dorthin wo er seinen Bruder vermutete, erwiderte: “Dein Geschenk ehrt mich, Vater. Doch was soll ich damit? Mein Bruder röchelte mit blutbenetzten Lippen seine Seele in den Hades und keiner gab ihm den Obulus, mit dem er den Wegzoll hätte zahlen können. Der Fährmann wird ihn nicht ins Boot lassen, auf ewig wird er an den Ufern des Styx schmachten, ohne je den Frieden finden zu können. Dies zu wissen könnte auch ich nie Frieden finden. Und überhaupt: Eine Ewigkeit ohne meinen Bruder? Ohne ihn, da bin ich nichts. Ich liebe ihn zu sehr. Dankend lehne ich ab, Vater. Gewähre mir und ihm Eintritt in den Hades, auf dass unsere Seelen gemeinsam vergehen.” Zeus war gerührt. Doch dennoch wollte er seinen Sohn nicht der Vergessenheit übergeben.

Also fand Zeus einen Kompromiss: Einen Tag durfte Polydeukes gemeinsam mit Kastor am Olymp verweilen, den nächsten aber mit ihm in der Unterwelt. Dies sollte sich so lange wiederholen, bis ihre Seelen letztlich zu Schemen vergingen, bar jeder Erinnerung an ihr irdisches Leben und daran, wer oder was sie einst gewesen waren. Dies ist das Ende aller, die in den Hades sinken. Danach werden sie wiedergeboren. Daher ordnete Zeus die Sterne so, dass das strahlende Ebenbild der Brüder fortan über alle Zeiten vom Himmel herab funkelte.

Tyndareos, als er vom Tod seiner Erben erfuhr, zog sich vor Gram aus den Regierungsgeschäften zurück. Kurz darauf starb er. So folgte Menelaos auf den spartanischen Thron. Wenige Tage später reisten die Trojaner ab und mit ihnen, von Paris unbemerkt unter Deck gebracht, die schöne Helena. Der Krieg um Troja, der das Ende der großen Heldenzeit, das Ende aller göttlichen Intervention in die Leben der Sterblichen bringen sollte, war nur noch wenige Wochen davon entfernt, ausgerufen zu werden.

INFOBOX:
Wie bereits erwähnt gab es viele berühmte Zwillinge in den Mythen. Selbst unter den Olympiern fand sich ein solch prominentes Geschwisterpaar: Artemis und Apollon, deren himmlische Verkörperung Sonne und Mond entsprachen.
Dann wären da noch Ismenos und Kaanthos, die Kain und Abel gleich, den Brudermord in die Welt brachten. Sie waren Söhne des Urstroms, der Quelle aller irdischen Wasser, den die Griechen Okeanos nannten. Kaanthos und Ismenos gerieten in Streit um ihre Schwester Melia. Zuletzt erschlug Kaanthos den Ismenos. Von der Eifersucht geblendet glaubte Kaanthos nämlich, Melia würde seinen brüderlichen Rivalen lieber haben.
Berühmt waren auch Amphion und Zethos. Amphions unvergleichbares Leierspiel brachte die Feldsteine in Bewegung und wie von Zauberhand formte er so die unbezwingbaren Mauern, welche die Stadt Theben umgürteten, während sein kriegerischer, starker Bruder Zethos auf ihnen patroullierte.
Kastor und Polydeukes galten vor allem den Seefahrern als Schutzgottheiten, die man anrief, sollte ein Schiff in Seenot geraten. Dort, ganz wie es den Abkömmlingen eines Schwanes gebührt, kamen sie auf gefiederten Schwingen herbeigeeilt um die Wogen zu glätten und die Leben der Matrosen zu retten.
Das Sternbild Zwilling ist eine deutlich sichtbare Konstellation, die sich im Winter gut beobachten lässt. Da es nur ein wenig nord-östlich vom noch auffälligeren Orion liegt und dabei gleichzeitig sehr hoch am Südhimmel steht, ist es sehr einfach zu finden.
Im Jahre 1930 wurde der Zwergplanet Pluto bei der Auswertung von Fotografien im Sternbild Zwillinge entdeckt.
Für alle, die sich nun selbst gerne auf die Suche nach den Sternbildern machen möchten, empfehle ich die App “Star Walk 2” für Smartphones und Tablets, oder eine klassische, drehbare Sternenkarte aus Karton. Ansonsten kann man auch über folgenden Link völlig kostenfrei über den Himmel navigieren!
https://www.astronomie.de/der-himmel-aktuell/?no_cache=1

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Pascal Takes

Pascal trat dem Team im November 2019 bei. In Inzing ist er außerdem Mitglied des Kulturvereins und Mitarbeiter in den Kinder- und Jugendbetreuungseinrichtungen. Besonders interessiert er sich für Sprachen, Evolutions- und Kulturgeschichte. Eine Welt ohne Halbwissen wäre Pascal's Überzeugung nach einer Welt ohne Hass. Im Dienste dieser Überzeugung versucht er wirksam sein.

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