„Ach Kinder!“, denk ich mir oft in letzter Zeit. Welche Welt hinterlassen wir euch? Können wir tatsächlich irgendwann guten Gewissens abtreten oder in den weltgestalterischen Ruhestand gehen und unsere Welt getrost unseren Sprösslingen überlassen? Ich befürchte, ein Altenteil so wie es bisher üblich war, wird es in vielen Bereichen für meine und kommende Generationen nicht mehr geben. Es wird verschwinden, weil unsere Welt – ja, was ist sie denn nun, unsere Welt: Befindet sie sich nur im Wandel, im Übergang zur menschlicheren Moderne oder ist sie tatsächlich aus den Fugen geraten? Und könnte der Fugenkitt tatsächlich der neu gedachte „Jeder Mensch“ sein, dem Ferdinand von Schirach in seinem gleichnamigen Buch neue wie eigentlich althergebrachte Rechte als neue Selbstverständlichkeit zugesteht.
„Ferdinand von Schirach ruft in seinem Buch »Jeder Mensch« zur europäischen Verfassungsgebung auf: Wir, die Bürgerinnen und Bürger Europas geben uns sechs neue Menschenrechte, die auf die großen Herausforderungen antworten, vor denen wir heute stehen: die Bewahrung unserer Umwelt, die Behauptung unserer digitalen Selbstbestimmung, unser Leben mit intelligenten Maschinen, die Wahrheit und nicht die Lüge als Voraussetzung unserer Demokratie und vor allem auch das Ende der Ausbeutung in einer globalen Welt.“ (Zitat aus: „Zu Ferdinand von Schirachs >>Jeder Mensch<<, Prof. Dr. Jens Kerstens, LMU München)
In „Jeder Mensch“ geht es um Konsum, politische Führung, menschlich geistige Unabhängigkeit, Reife und Würde. Eigentlich geht es um all das, womit sich schon Hugo von Hofmannsthal in seinem Stück „Jedermann“ beschäftigte. Womit ich behaupten möchte, der Titel des Buches „Jeder Mensch“ sei nicht zufällig gewählt.
Verweilen wir zunächst kurz beim „Jedermann“. Denn ich möchte frei nach Lars Eidinger, dem neuen Jedermann der diesjährigen Salzburger Festspiele zitieren: „Als Individuum produziert auch Max Mustermann als reicher Jedermann Bedürfnis ohne Verhältnis.“ Mir kam bei diesen Worten der Gedanke, dass wir als reiche Gesellschaft nicht nur ausschließlich elementare Bedürfnisse herstellen. Vielmehr sind es übermäßig konsumzentrierte Bedürfnisse, die wir nicht ins Verhältnis zu Umwelt, Mitmensch, Gemeinschaft, sozialer Einheit setzen. Denn augenscheinlich ist fast jede Befriedigung schnell und einfach erwerb- und leistbar. Dass wir aber mit der Bezahlung nicht nur vergüten, sondern unter Umständen neue Defizite, prekäre Verhältnisse schaffen, darüber sind wir uns scheinbar nicht völlig im Klaren oder wir gehen darüber hinweg.
Wir produzieren also mit Befriedigung des Bedürfnisses auch Defizit und Schaden. Diese immer nun sichtbarer werdenden Defizite stehen im scheinbar moralfreien Raum. Da sie aber immer prekärer werden, braucht es die Benennung von Rechten, die sämtlichen Einheiten, denen wir verpflichtet sind und dem Einzelnen die Möglichkeit zur Regeneration, zur Weiterentwicklung, zur Menschlichkeit geben. Denn dem reichen Max Musterjedermann steht nach Ferdinand von Schirach Jeder Mensch mit folgenden Rechten gegenüber:
Artikel 1 – Umwelt: Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben.
Artikel 2 – Digitale Selbstbestimmung: Jeder Mensch hat das Recht auf digitale Selbstbestimmung. Die Ausforschung oder Manipulation von Menschen ist verboten.
Artikel 3 – Künstliche Intelligenz: Jeder Mensch hat das Recht, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen.
Artikel 4 – Wahrheit: Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.
Artikel 5 – Globalisierung: Jeder Mensch hat das Recht, dass ihm nur solche Waren und Dienstleistungen angeboten werden, die unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt und erbracht werden.
Artikel 6 – Grundrechtsklage: Jeder Mensch kann wegen systematischer Verletzungen dieser Charta Grundrechtsklage vor den Europäischen Gerichten erheben.
Diese Rechte, so selbstverständlich sie klingen mögen, sind so ins Prekariat abgerutscht, dass wir sie nach Ferdinand von Schirach als Gesellschaft wiederbeleben, neu bewerben und uns über sie neu definieren müssen, als Gesellschaft, als Weltbürger und als Einzelne. Wir müssen wieder ein Gefühl dafür bekommen, wer wir sind, in welchem Verhältnis wir zu Recht, Verantwortung und Schwächeren gegenüber stehen. Das bedeutet, wir müssen uns an eine Neuordnung, eine Wiederorientierung wagen. Der einzige Kompass, der tatsächlich zählt, ist die Frage nach der Würde für Mensch und Umwelt. Damit würden wir unsere Aufgaben und Ziele und uns als Individuen neu bewerten. Wir könnten uns in einer Gesellschaft wiederfinden, in der Berthold Brecht Recht behielte mit seiner Aussage „Widersprüche sind unsere Hoffnung“. Warum? Weil diese endlich wieder sichtbaren Wertwidersprüche dann den dialektischen Diskurs stärken würden und es nicht mehr um persönliche Befindlichkeiten gehen müsste, die im Sinne des Toleranzparadoxon gegen freiheitlich demokratische menschliche Grundsätze verstoßen. Denn im geistig rechtlichen Empfinden wäre es nicht mehr egal, ob ich mit der Durchsetzung meines Bedürfnisses ohnehin schon missliche Situationen ins hoffnungslose Prekariat abrutschen lasse.

Das bedeutet nicht, nun kommt der große Gleichmacher. Es braucht jeden, den fundamentalistischen Rand, der seine Grenzen im Rechtsstaat findet und die gemäßigte Mitte, die den Ausgleich schafft zwischen den Rändern. Aber es braucht eben auch einen Rahmen der Selbstverständlichkeit, der verlorengegangen ist, in dem die Grenzen des Defizits und der Zerstörung nicht bis zum Maximum ausgereizt werden können.
Beispiele dafür wie unwürdig und defizitär wir leben und uns verhalten, gibt es genug:
Es geht schon lange nicht mehr darum, dass ich meinen Müll fachgerecht entsorge und Folien nach Knisterfaktor in die richtige Tonne schmeiße. Es geht darum, dass der bei mir daheim fachgerecht entsorgte Müll nicht das Zuhause Anderer zerstört, egal, ob Tier oder Mensch. Darüber müssen wir nachdenken und bald produktiv werden. Es muss für uns als faktisches Defizit geltend gemacht, nicht als etwaige Möglichkeit diskutabel werden.
Zudem müssen wir uns als würdige Menschen wieder ins Verhältnis setzen und darauf dringen, dass nicht jede Information die wir teilen, einem großen Ganzen zugeführt wird, an dessen Ende unsere Kaufkraft, unsere Bestechlichkeit und unser Wert als Humanmaterial bemessen wird.
Wir müssen für mehr Menschlichkeit plädieren, den Menschen durch gerechte Entlohnung, faire Arbeitszeiten und allgemeine Arbeitsbedingungen wieder die Möglichkeit geben, Mitgefühl und Barmherzigkeit füreinander zu empfinden. So werden wir beispielsweise im medizinischen Dienstleistungsbereich wieder eine Zuwendung hin zum Menschen erfahren, wenn das Leid des Dienstleisters bedingt durch sein desaströs prekäres Arbeitsumfeld für ihn nicht mehr größer ist, als das Leid des Klienten.
Und selbstredend sprechen wir hier auch von Konzernen, die auch schon vor Corona ungestraft und unter den Augen der politischen Weltöffentlichkeit Menschen in Arbeitsverhältnisse zwangen die schon längst die Grenze des Prekariats überschritten haben. Die Verantwortung an den Endverbraucher abzuschieben, der eben in dieser Welt des defizitschaffenden Konsums lebt, ist unverantwortlich. Es müssen eben Bedingungen geschaffen werden, die nicht dem Konsumzwang unterworfen sind. Ich kann nichts sein, wenn ich nicht habe, was alle haben, obwohl ich mit dem was ich hätte, eigentlich schon genug haben würde. Das heißt, wenn ich mit dem was ich verdiene auskäme, aber mir die Statussymbole nicht leisten kann, gehöre ich zu den Ausgrenzungsgefährdeten und stehe außerhalb der gesellschaftlichen Anerkennung…es braucht viel Mut, Geist und Kraft, um hier gegenzuhalten. Wir müssen uns dringend die Frage stellen ob es im gesellschaftlichen Kontext nicht doch auch etwas anderes geben könnte, um Zufriedenheit und Ausgeglichenheit zu finden. Wir leben in einem Zeitalter in dem jeder bezahlbare Wunsch mehr wiegt, als das Recht des Einzelnen. Wir verunmöglichen Würde, wenn jegliches Bedürfnis möglich werden muss, weil es grundsätzlich bezahlbar und/oder vorhanden ist!

Zum Artikel 4, dem Recht auf Wahrheit wollte ich mich eigentlich nicht äußern. Alles, was mir hierzu einfiel, war unhöflich. Dennoch werde ich hier einen Versuch wagen: Die Wahrheit ist immer relativ. Den Bereich der Fake News, das ewige Hin und Her zwischen Befürwortern und Gegnern irgendwelcher Thesen, möchte ich hier nicht thematisieren, weil es müßig ist. Jeder muss letzten Endes mit der Konsequenz seiner Meinung und der damit einhergehenden Entscheidung leben.
Was im Artikel 4 tatsächlich Sache ist, rührt an den Grundfesten der Staatsform, in der wir leben oder die eigentlich mal beabsichtigt war. Allein das Beispiel Österreich zeigt, wie durchlässig das System für die Lüge und den Betrug ist und wie ungewohnt schnell der Mensch, eine gesamte Gesellschaft, sich diesem schleichenden Diktat hingibt. Absichtlich schrieb ich nicht beugt, denn es ist kein Beugen, es ist ein Hinnehmen der Dinge, als seien es einfach nur Gegebenheiten. Was wir derzeit erleben ist das Zeitalter der Korruption auf allen Ebenen – die Königsdisziplin ist die Korruption der Gedanken und letztendlich des Gewissens und damit der Seele. Was hier zutiefst moralisch klingt, ist unauffällige Normalität.

Mit Sebastian Kurz und seinem Team beginnend rund um Strache und Konsorten hat eine Auffassung von Wahrheit in der Mitte unserer Gesellschaft Platz genommen, die die Macht einiger Weniger stärkt und ihr Mittels Lüge den Weg bereitet. Und wir haben uns eigentlich daran gewöhnt, dass es so ist. Aus einer kritischen Gesellschaft, die mitlenken sollte, ist Masse geworden. Als Teamplayer wird der moralische Gesellschaftskompass in seiner Vielfalt eigentlich ausgeschaltet. Jan Böhmermann gab dankenswerterweise im Mai dieses Jahres eine sehr gut recherchierte deutliche Zusammenfassung hierzu. Er sprach von dem System Kurz zugetanen kooperativen Medien, von Oligarchen, die sich erfolgreich in dieses System einkaufen, von Beugung des Rechtes durch das Parlament und der offensichtlichen erfolgreichen Verweigerung des Systems Kurz gegenüber rechtlichen Staatsorganen. Warum wundern wir uns eigentlich noch, dass der Gewissenspiegel sinkt und wir uns unter Umständen selber dabei ertappen, dass wir uns über Tabus hinwegsetzen… Das würde erklären, warum die „alte“ Linke die neue Mitte für sich entdeckt hat, sozusagen als politischer Gegenpol und mehr und mehr zum moralischen Kompass wird, während es allerdings auch an ihren Rändern ausapert. Und wie lange noch können Kunst und tatsächlich freie Medien diesem Kurs entgegensteuern, diesem Kurs, der letzend Endes in die Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit führt, weil sie ohnehin nicht verpflichtend gilt. Wir sind also auf dem besten Wege uns moralisch kaputt korrumpieren zu lassen, denn eine Eintagsfliegenempörung, wie wir sie derzeit meistens praktizieren, wird uns aus dieser Misere nicht retten!

Seien wir also Revolutionäre, klagen wir nicht nur einfach an weil es schick ist, sich gerade über dieses oder über jenes Thema in einer hinreißenden Überaufgeregtheit zu ereifern, um es in ein paar Stunden, Tagen oder Wochen eh zu vergessen, à la: Ich habe eh ein Zeichen gesetzt.
Unsere Zeit ist zu schnelllebig. Entschleunigen wir sie indem wir dranbleiben und gemeinsam größeres wagen, als den Sturm im Wasserglas! Rufen wir als Stimme der Toleranz und der Empathie sechs neue Grundrechte aus, geben wir der Demokratie Möglichkeit, Mittel und Zeit – als Europäer, Weltbürger, Menschen und Revolutionäre. Überwinden wir den lethargischen Jedermann! Legen wir endlich den Grundstein für eine europäische Verfassung!
Schaffen wir Fakten, verpassen wir mittels direkter Demokratie jenen einen Maulkorb, die gegen freiheitlich demokratische Grundsätze verstoßen und glauben, dass eine Demokratie nicht auf Gemeinschaft, sondern ausschließlich auf persönlichem Bedürfnis und gerade empfundener Stimmung beruht.
Heute wird Empathie und Toleranz an allen Ecken jammernd eingefordert. Toleranz bedeutet zwar, den Widerspruch auszuhalten, aber nur bis zu dem Punkt, an dem nach Karl Popper der rationale Diskurs und/oder die Freiheit Anderer ad absurdum geführt wird. Hierzu braucht es die notwendige auch geistige Empathie, um der Dialektik Raum zu geben. Denn Empathie ist nicht Stimmung. Empathie ist Verantwortung gegenüber sämtlichen Einheiten, in denen wir leben. Empathie meint: Ich nehme den Wert jedes einzelnen Lebens ernst und nicht nur den Wert jener, die mir einfach gerade nahestehen oder mir einreden wollen, dass ihre Meinung als Doktrin über allem steht. Lasst uns wie schon oben zitiert in ernsthaften Widersprüchen wieder Hoffnung finden. Damit könnten wir die Werte unseres Lebens wieder ernst nehmen und endlich wieder unterscheiden, was gut ist und was böse. Damit wären wir nicht mehr der verzweifelte Jedermann, der bis zum Ende seines Lebens um seine Würde kämpft, nicht das verwirrte große Kind, nicht die verlorene Marionette – denn wir wären endlich ……

LINK zur Abstimmung “Für neue Grundrechte in Europa”: