Wir bieten hier eine Link-Sammlung zu Artikeln, die möglicherweise festgefahrene Ansichten revidieren.
1) Made in China
In einem Beitrag in der ZEIT ONLINE vom 3.4.2020 stellt Adam Soboczynski die ketzerisch klingende Frage, ob angesichts des Umgangs mit der Corona-Krise nicht der digitale Staatskapitalismus Chinas in Wahrheit fortschrittlicher ist als das System westlicher Demokratien.
“Während die Europäer und Amerikaner mit hilflosen, ja regelrecht mittelalterlichen Methoden die Bewegungsfreiheit des Bürgers einschränken, setzt die asiatische Lösung auf Gesundheits-Apps, mit denen das Leben des Individuums in bislang unvorstellbarer Lückenlosigkeit kontrolliert wird und die Kranken von den Gesunden separiert werden. Es verwirklicht sich ein albtraumhafter, biopolitischer Überwachungsstaat. Aber wie wird man der chinesischen Politik noch Repression vorwerfen können, wenn hierzulande die Polizei Parks darauf hin abkämmt, ob sich mehr als zwei Leute im Busch lümmeln? Wie wird man den Chinesen Brutalität vorwerfen können, wenn dort – im Gegensatz zur westlichen Welt – zumindest wieder ein öffentliches Leben existiert?”
Soboczynski weist weiters auf negative Auswirkungen der Globalisierung hin und findet schließlich eine geopolitische Zuordnung der sich ändernden Machtansprüche, indem er feststellt, dass das 19. Jahrhundert das Jahrhundert der Europäer, das 20. das der Amerikaner war und dass das 21. dem Fernen Osten gehören wird.
https://www.zeit.de/2020/15/china-machtpolitik-einfluss-coronakrise-digitaler-leninismus
2) Wohlstandsgesellschaft und das Virus – Aufwachen, Kinder!
Dieses lesenswerte Essay von Helmut Däuble (taz, 5.4.2020) diagnostiziert eine Gesellschaft, die kein Bewusstsein für Krisen hat, da sie stets woanders stattfanden:
“Seit Jahrzehnten sitzen wir vor unseren immer größer werdenden Flachbildschirmen und lassen uns die Gruselgeschichten aus aller Welt erzählen. Wir schauen auf Bürgerkriege, auf Flüchtlingscamps, auf niederbrennende Textilfabriken und einstürzende Dämme, die Tausende im Schlamm verrecken lassen. Aber sehen wir es wirklich? Manchmal reiben wir uns die Augen und versuchen, die Welt da draußen, die schlimme, wahrzunehmen. Aber es fällt uns schwer. So schwer. Weil das Draußen immer draußen blieb. Es rückte uns in langen Jahrzehnten nie wirklich auf die Pelle.”
Däuble findet, dass wir eine Gesellschaft geworden sind, der das Bewusstsein für echte Krisen verloren gegangen ist. Und schien es manchmal schief zu laufen, wurden wir immer wieder gerettet (siehe Finanzkrise von 2008/09). Diese adoleszente Arroganz hätten wir uns über lange Zeit im Glauben einverleibt, dass es schon gut gehen würde. Des Autors Befund lautet aber, dass es eigentlich nie gut war und dass unsere egoistische Gesellschaft eigentlich eine nach unten tretende, immer brutaler werdende ist.
Das Essay schließt mit dem englischen Sprichwort „Chickens have come home to roost“, was hier ein Hinweis darauf sein soll, dass unsere ungezügelte Ausbeutung der Welt sich nun an uns rächt.
https://taz.de/Wohlstandsgesellschaft-und-das-Virus/!5674092/
3) COVID-19 – eine Zwischenbilanz oder eine Analyse der Moral, der medizinischen Fakten, sowie der aktuellen und zukünftigen politischen Entscheidungen: Ein Gastkommentar von Prof. Dr. med. Dr. h.c. Paul Robert Vogt in Die Mittelländische Zeitung (7.4.2020)
Dieser sehr lange Artikel in der genannten Schweizer Zeitung hat eingeschlagen wie eine Bombe: Bereits in den ersten beiden Tagen wurde der Beitrag 350 000mal gelesen und sehr oft geteilt.
Der Titel des Beitrags eröffnet auch schon die facettenreiche Aufarbeitung der Corona-Zeiten:
– Datenrelevanz, -aussagekraft
– Argumente gegen die Einschätzung von Covid-19 als “gewöhnliche” Grippe
– Sterblichkeit und Moral / Eugenik
– Die Pandemie war angekündigt!
– Politische Aspekte – Propaganda
– Gründe für europäische bzw. amerikanische Versäumnisse
– Woher dieses Virus stammt
– Was wissen wir? Was wissen wir nicht?
– Was können wir aktuell tun?
– Zukunftsperspektiven: “Plagues Tell Us Who We Are. The Real Lessons of the Pandemic will be Political“. (Zitat aus Foreign Affairs, 28.3.2020)
4) Reiche, Notenbanken oder Pensionisten: Wer soll die Corona-Krise bezahlen?
Leopod Stefan / András Szigetvari, Der Standard (19.4.2020)
Im Fokus dieses Reports stehen die ökonomischen Auswirkungen der globalen Corona-Krise. Die zentrale Frage lautet: Wer bezahlt letztlich die geschätzten acht Billionen Euro Wertschöpfungsverluste und die ca. sieben Billionen Euro Staatsausgaben (IWF-Angaben)?
Die Antworten darauf sind sehr breit gestreut: Niemand (ernst gemeinte Antwort), wir alle (allgemeine Steuern), bestimmte Gruppen (höhere Steuern für Vermögende – moderat oder radikal), drastischer Sparkurs der Regierungen (auf Kosten jener Menschen, die jetzt schon benachteiligt sind), Lastenausgleichsplan über einen Zeitraum von etwa 30 Jahren, Pensionisten (im Rahmen eines Generationendeals) …
5) Coronavirus in den USA: Ein amerikanischer Menschenversuch
Kommentar von Klaus Brinkbäumer (New York), DIE ZEIT ONLINE (20.4.2020)
Der in New York City lebende ZEIT-Autor prognostiziert ein mögliches dramatisches Scheitern in den USA bei der Bekämpfung von COVID-19 aufgrund der sprunghaften und irrationalen Politik Donald Trumps, den er als wüst, sprunghaft, kleingeistig, eitel, rachsüchtig und fremdenfeindlich bezeichnet.
Die einzige Hoffnung, ein bundesweites Scheitern zu verhindern, ruhe auf den Schultern vieler Pflegekräfte, Ärzte und Forscher, die äußerst engagiert gegen COVID-19 kämpften. Es gebe auch viel Vernunft unter den Politikern und in Teilen der Zivilgesellschaft, die mit größter Ernsthaftigkeit in dieser Situation agierten.
K. Brinkbäumer hält es auch für möglich, dass die Rechten in den USA daraus nichts lernen, sondern ihre obsessive Suche nach Sündenböcken fortsetzen werden (Weltgesundheitsorganisation, die Demokraten…), was zu einer weiteren Vertiefung der Spaltung in der amerikanischen Gesellschaft führen wird.
Im letzten Teil listet der Autor Beispiele für das sprunghafte und widersprüchliche Verhalten Trumps auf, das zu Demonstrationen in mehreren Bundesstaaten unter der Führung von so zweifelhaften Figuren wie Konspirationstheoretiker Alex Jones animierte, der das Virus via Megaphon einen Schwindel nannte.
6) Philosoph Burger: “Die Beschränkungen sind nicht mehr als eine Belästigung”
Der Philosoph Rudolf Burger über Corona und die Folgen der Pandemie für die Gesellschaft.
Thomas Hödlmoser (SN, 23.4.2020)
In diesem Interview in den SN verleiht Rudolf Burger seiner Vermutung Ausdruck, dass Corona bald wieder vergessen sein und die Regierung trotz ursprünglich wohlmeinender Intention noch sehr viel Kritik ernten wird. Er zieht einen Vergleich mit der Spanischen Grippe von 1918/20, die trotz geschätzter Opferzahlen von 50 bis 100 Millionen Menschen kaum in Erinnerung geblieben sei, obwohl mehr Menschen umkamen als im 1. Weltkrieg.
Was die Ökonomie betrifft, glaubt der Philosoph nicht an eine länger anhaltende Depression in Österreich. Für den Fremdenverkehr jedoch befürchtet er große Auswirkungen und vermutet, dass Konzerne kleine Unternehmen schlucken werden.
Der einundachtzigjährige Burger nennt COVID-19 eine dialektische Seuche und prophezeit im Endeffekt eine “normale” Mortalitätsrate, wobei zwar der Anstieg in manchen Ländern derzeit groß sei, die Rate aber nach der Krise wieder sinken würde, da die Alten und Kranken in den Folgemonaten früher oder später sowieso sterben würden.
Der Interviewpartner lobt ausdrücklich das Management der österreichischen Regierung im Zusammenhang mit Corona, erwartet aber nach der Krise vehemente Kritik am Kurz-Kabinett, da man sehen wird, dass die Auswirkungen nicht so gravierend gewesen sein werden.
Zum Schluss vermutet Burger, dass sich nach der Pandemie in Bezug auf das Verhalten der Menschen kaum etwas ändern werde.
7) Biochemikerin Renée Schroeder: “Keiner soll von dieser Krise profitieren”
Daniele Pabinger (SN,1.5.2020)
Die vergangenen Wochen hat Renée Schroeder persönlich als “aufoktroyierte Notbremse” erlebt. Sie ist überzeugt, dass wir uns eine neue Wertigkeit suchen müssen:
– Corona-Solidarbeitrag: Alle PensionistInnen bekommen in der Corona-Krise ihre Pension wie immer. Sie haben am Ende des Monats mehr Geld am Konto, da sie kaum Geld ausgeben können. Daher sollten Leute wie sie einen Teil ihrer Pension spenden.
– Abkehr vom priorisierten Wachstumsglauben: Wachstum, Wachstum, Wachstum. Wozu?
(nach dem Motto von H. Qualtinger: “Die Leute wissen nicht, wo’s hin wollen, aber sie wollen als erster dort sein.”)
– Planen ist gut, darf aber nicht blind machen für Alternativen.
– Social Distancing beinhaltet zwar physisches Abstandhalten, aber nicht, dass man die anderen nicht mehr wahrnimmt. Empathie und soziale Verantwortung sind gefragt.
– Man braucht keine übertriebene Angst zu haben. Wenn ein Virus neu ist, ist es am Anfang oft sehr ansteckend, aber dann passt es sich in der Regel auch an.