3. Dezember 2024
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Sternbild Rabe

Lesedauer ca. 6 Minuten

Jede Nacht überspannt uns ein Zelt, aus dunklem Samt gewebt und von trilliarden Lichtern durchwirkt. Seit Urzeiten regt dieses kühle Funkeln unser Suchen und Fragen an. Wie in einem gigantischen Bilderbuch finden wir dort oben die Abbilder der Protagonisten aus Erzählungen, deren Autoren selbst längst zu Staub zerfallen sind. Ein jedes Sternbild hat seine Geschichte, ist konservierte Erzählkunst. Hier soll dazu eingeladen werden, einige dieser himmlischen Piktogramme zu entstauben und sich von ihnen auf eine Zeitreise durch menschliches Träumen leiten zu lassen.

Unter den alten Griechen wurde sich erzählt, dass zu den Zeiten, als noch Götter und Heroen auf Erden wandelten, alle Raben ein leuchtendes Kleid aus weißen Federn trugen. Besonders kundige Geschichtenerzähler behaupteten sogar zu wissen, dass diese Vögel mit schönen, melodischen Stimmen singen konnten. Dass wir diese Tiere heute weder mit der Farbe Weiß noch mit einem besonderen Talent als Singvogel in Verbindung bringen, hat einen besonderen Grund: Einem dieser unglückseligen Vögel war es nämlich geschehen, dass er den Zorn des goldenen Gottes Apollon auf sich zog.

Diese Geschichte findet ihren Anfang im Palast des Ixion, der ein König über das sagenhafte Volk der Lapithen war. Ihm war auch eine Schwester gegeben, die hieß Koronis und sie residierte mit ihrem Bruder in der Stadt Gyrton.

Ixion, der später den Beinamen “Der Frevler” erhielt, zog damals mit seinen Verfehlungen die göttlichen Blicke des Olymp auf sich und die Seinen. Auf diese Weise fand das Schicksal, von dessen Unabwendbarkeit die Griechen fest überzeugt waren, unvermeidlich seinen Weg zur schönen Koronis.

Apollon oder Apoll, den die alten Griechen und später auch die Römer als einen Gott des Lichts, der musischen Künste und der Weissagung verehrten, verliebte sich in diese hübsche Jungfrau. Nun ja, das heißt: Er begehrte sie von dem Moment an, da er sie erblickte. Wie einen Juwel wollte er sie besitzen, sich mit ihrer Eroberung zieren. Schließlich, so meinte der Zeussohn, war es sein Recht als Gott, dass er über Menschen verfügen konnte, wie es ihm gerade beliebte. Ohne lange zu zögern oder großartig nachzudenken, ganz seinen Impulsen folgend, offenbarte Apoll sich der jungen Frau, warb um die Schöne, die zu diesem Zeitpunkt wohl gerade die ersten Knospen ihrer allmählich aufblühenden Fraulichkeit erleben mochte. Und sie verwehrte sich ihm in weiser Voraussicht nicht. Denn es war höchst ungesund, sich den Wünschen der Götter zu widersetzen – ein jeder in ganz Griechenland wusste das.

Nachdem er Koronis schließlich aus seiner Umarmung entließ, kehrte der Lichtgott mit gemischten Gefühlen nach Hause auf den schneeumwehten Gipfel des Olymp zurück. Seine Liebschaften standen niemals unter einem besonders guten Stern. So gut wie immer endeten sie tragisch, Tod und Unglück schienen Apolls treuesten Liebhaber zu sein. Vom Geschmack zahlloser Enttäuschungen ernüchtert, war der Olympier bitter und misstrauisch geworden.

So nagte auch jetzt Zweifel an seinem Herzen, Ungewissheit zehrte an ihm, bohrte sich eiternde Gänge durch den Verstand. War es ihm nicht allzu mühelos gelungen, Koronis zu erobern, gab sie sich ihm nicht allzu willig hin? Konnte es wirklich so einfach sein? Nein! Das Schicksal hatte ihn noch stets eines Besseren belehrt!

Doch selbst als Gott hatte Apollon Pflichten und so konnte er nicht stets ausziehen, um bei Koronis zu sein. Unentwegt von seiner Ohnmacht gepeinigt, kapitulierte der Sorgenkranke schließlich vor seinem Kummer. Entschlossen, dem ein Ende zu bereiten, sandte er umgehend eine weiße Rabenkrähe aus, die an seiner statt über das Mädchen wachen sollte. Über jeden Schritt, den die Angebetete tat, wollte Apollon unterrichtet werden, kein Detail durfte der Krähe entgehen, peinlichst Protokoll zu führen hatte sie!

Mittlerweile hatte Koronis indes gewiss erkannt, dass sie von ihrem göttlichen Liebhaber schwanger war.

Ihre Worte sind uns leider nicht überliefert, ihre Version blieb im Dunkel der Geschichte zurück. Niemand kann also sagen, was sie schlussendlich dazu bewegte, den Sohn des Zeus zu hintergehen. Womöglich blieb der jungen Frau schlichtweg keine andere Wahl. Denn ihr Bruder, König Ixion, war von Zeus inzwischen niedergestreckt und in den tiefsten und dunkelsten Winkel des Totenreichs, den Tartaros, verbannt worden. Dort muss der Verdammte – an ein sich unentwegt drehendes, flammendes Rad genagelt – die Ewigkeit ertragen. Dass Koronis sich also von Ischys, dem Herrscher über Arkadien, in Apollons Abwesenheit ehelichen ließ, mag durchaus auch eine Frage des politischen Kalküls gewesen sein. Immerhin: Ein derart entleerter Thron, wie es der des Ixion nun war, schrie geradezu nach einem Usurpator. Falls seiner Schwester denn überhaupt eine Wahl blieb, dann war ihr vermutlich bewusst gewesen, dass man unter derartigen Umständen gut daran tat, seine Allianzen selbst zu schließen – bevor sie einem aufgezwungen wurden.

Was ihre Gründe dafür auch gewesen sein mögen – Koronis‘ Untreue blieb nicht lange unbemerkt. Die Krähe hatte die Entflohene rasch ausfindig gemacht. Und von da an gab es kein kokettierendes Wimpernklimpern, kein lockendes Lächeln, keine heimliche Berührung, die den scharfen Augen des Vogels mehr entging. Dieser verweilte einige Tage am Palast des Ischys – zweifelsohne um sich der Sache restlos sicher sein zu können. Oder schwante dem Boten bereits Übles? Auch Apollons Zorn war berüchtigt und so war es gewiss nicht sein leichtester Flug, zu dem sich der pflichtbewusste Rabe schlussendlich in die Wolken erhob.

Mochte des Gottes Liebe für Koronis auch naiv gewesen sein – sie war auf ihre Weise dennoch aufrichtig. Die Schilderungen der Krähe, die ihm nun entgeistert zu Ohren kamen, öffneten kaum verheilte, dumpf pochende Wunden im göttlichen Herzen. Gierig saugte es sich voll am Gift der Eifersucht. Bis der Vogel mit seinem Bericht geendet hatte, war Apollons sonst so strahlendes Gesicht längst fahl geworden. Die blutleeren Lippen zitterten vor Zorn, als er nach quälend langer Pause zu sprechen begann. Es lag ein Grollen in seiner Stimme, ein Unheil, wie nur ein Gott es zeugen konnte. Ein vernichtender Blick richtete sich auf den schuldlosen Rabenvogel, der es nicht mehr wagte jetzt noch zu fliehen.

“Und was hast du die ganze Zeit über getrieben, nutzloses Federvieh? Hast dich an den Feigen der Palastgärten gelabt und dich an den Abfallhäufen der königlichen Küche feist gefressen! Schändlicher Lump! Ein feiger Tunichtgut bist du, ein heimlicher Gaffer! Warum nur bliebst du tatenlos, wo du der Treulosen doch sogleich hättest sollen das Gesicht zerkratzen, die Augen auspicken, das Haar zerrupfen, die Lippen zerfetzen?! Ach, wärst du doch nie zu mir zurückgekehrt! Einen Drachen hätte ich ihr an deiner Statt schicken sollen! Verflucht sollen die Deinen sein um deinetwegen! Dieselbe Schwärze werden sie im Gefieder tragen, die mir nun mein leckgeschlagenes Herz umwölkt! Ihre Stimme soll zum Krächzen verkommen! In den Ohren soll sie schmerzen, wie mich deine Worte in der Seele schmerzten! Dich aber, der du das tatenlose Gaffen doch so liebst, dich werde ich hoch an den Himmel verbannen, fern von deinen Brüdern und Schwestern! Und dort sollst du bleiben und heruntergaffen auf die elenden Menschen und ihre undankbare Schlechtigkeit, bis ihre freudlose Welt samt und sonders mit ihnen vergeht!”

Und so geschah es. Die Wut des Gottes tünchte aller Krähen Federkleid in tiefes Schwarz und ihre einst so blühende Stimme verdorrte: Krächzen müssen sie immerzu. Der arme Bote aber wurde zu einem Käfig zwischen den Sternen erhoben. Dort kann man ihn noch finden, als Konstellation des Corvus, des Raben, dessen Federn als einzige weiß geblieben waren. In klaren Nächten zwischen März und Mai funkeln sie als Sterne am Südhimmel.

Aber was wurde aus Koronis und ihrem Liebhaber? Nachdem sich Apollon um die Krähen gekümmert hatte, suchte er seine Zwillingsschwester Artemis auf, um ihr sein Leid zu klagen. Diese, die für die meisten Menschen nur wenig mehr als blanke Verachtung übrig hatte, war selten um eine Ausrede verlegen, ihrem Hass Ausdruck zu verleihen. Also schulterte die silberne Göttin der Jagd kurzerhand ihren Köcher voll der treffsicheren Pfeile, hob ihren unfehlbaren Bogen und zog hin, um die beiden Glücklosen zu morden. Als Apollon jedoch davon erfuhr und den pfeilgespickten, schwangeren Leib der Koronis am Boden liegend bluten sah, da reute ihn sein Zorn und er schnitt den ungeborenen, lebendigen Säugling aus dem Leib seiner toten Mutter. Asklepios, so nannte man das Kind. Dieser Gottessohn würde später durch seine Heilkunst selbst zu großem Ruhm gelangen. Und auch seine Geschichte steht in den Sternen.

Infobox: Es gibt übrigens eine zweite Legende zum Sternbild des Raben, die diesen mit den benachbarten Konstellationen “Becher” und “Wasserschlange” in Verbindung bringt. In dieser kürzeren Erzählung lässt sich der Vogel tatsächliche Schuld zukommen, in dem er Apollon wissentlich belügt. Dieser hatte den Raben zusammen mit einem goldenen Becher ausgesandt, um für ein Opferritual zu Ehren seines Vaters Zeus Wasser aus einer heiligen Quelle zu beschaffen. Mehrfach bläute Apoll seinem Diener ein, dass dieser sich zu beeilen hatte, denn wie die meisten Götter war auch der Herrscher über den Olymp nicht mit besonderer Geduld gesegnet. Auf dem Weg zur Quelle überflog der Rabe also einen Feigenbaum. Da dessen Früchte nur noch ein paar Tage brauchen würden um vollends zu reifen, beschloss der Rabe wider besseres Wissen diese Zeit abzuwarten, um sich dann den Bauch vollzuschlagen. Als er dann schließlich um mehrere Tage zu spät zurückkehrte (Apollon hatte sich währenddessen zweifellos Schimpf, Hohn und Spott von seinen Mitgöttern anhören dürfen), brachte er seinem Herrn als Teil einer Ausrede eine tote Schlange mit. Diese, so behauptete der Vogel, habe die Quelle bewacht und er hätte sie vorher besiegen müssen. Anscheinend musste diese Schlange ein Spross der Hydra gewesen sein, dann sie erwies sich als äußert hartnäckiger Gegner – weshalb sich der zweifellos epische Kampf dann auch tagelang hingezogen hatte. Apollon aber durschaute die zugegeben recht fadenscheinige Lüge mit entnervter Mühelosigkeit und statuierte ein Exempel am Raben, indem er ihn kurzerhand samt Becher und Schlange an den Himmel versetzte.

Pascal Takes
Foto Vito Technology Inc.

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Pascal Takes

Pascal trat dem Team im November 2019 bei. In Inzing ist er außerdem Mitglied des Kulturvereins und Mitarbeiter in den Kinder- und Jugendbetreuungseinrichtungen. Besonders interessiert er sich für Sprachen, Evolutions- und Kulturgeschichte. Eine Welt ohne Halbwissen wäre Pascal's Überzeugung nach einer Welt ohne Hass. Im Dienste dieser Überzeugung versucht er wirksam sein.

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