28. April 2024
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Sternbild Großer Wagen

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Lesedauer ca. 6 Minuten

Jede Nacht überspannt uns ein Zelt, aus dunklem Samt gewoben und von trilliarden Lichtern durchwirkt. Seit Urzeiten regt dieses kühle Funkeln unser Suchen und Fragen an. Wie in einem gigantischen Bilderbuch finden wir dort oben die Abbilder der Protagonisten aus Erzählungen, deren Autoren selbst längst zu Staub zerfallen sind. Ein jedes Sternbild hat seine Geschichte, ist konservierte Erzählkunst. Hier soll dazu eingeladen werden, einige dieser himmlischen Piktogramme zu entstauben und sich von ihnen auf eine Zeitreise durch menschliches Träumen leiten zu lassen.

Kaum ein Sternbild ist so auffällig und wohlbekannt, wie das des Großen Wagens. Für viele Menschen ist es sogar die einzige Konstellation die sie beim Namen kennen und auch mühelos identifizieren können. Das ganze Jahr über deutlich sichtbar, zieht der Große Wagen in gemächlichem Tempo seine Kreise über das Firmament.

Dionysos, der griechische Gott des Weins und der Fruchtbarkeit, des Rausches und der Ekstase, aber auch des Irrsinns, hat ihn dort hinaufgebracht. Aus den antiken Kultritualen zu seinen Ehren entstand im vorchristlichen Griechenland das Theater. Die Römer nannten den Gott bei seinem Beinamen Bakchos bzw. Bacchus – „der Rufer“. Aber man nannte ihn auch Lyäus, „den Sorgenbrecher“ oder Bromius, „den Lärmer“, denn sein mythisches Gefolge, bestehend aus enthemmten, entkleideten Frauen und Satyrn, zogen tanzend und feiernd durch das Land.

Die stets betrunkenen Satyrn, auch Silenen genannt, sind menschenähnliche, stets männliche Mischwesen die auf zwei Ziegenbeinen stehen und denen geschwungene Hörner aus der Stirn wachsen. Mit dickem Bauch und ständig erigiertem Glied, oft auch einen Aulos (eine antike Doppelflöte), an den Lippen wurden sie unter anderem von den begabten Vasenmalern Griechenlands dargestellt. Und Platon legte dem schönen Alkibiades gar in den Mund, er fände sein Lehrer und Liebhaber Sokrates ähnle äußerlich einem solchen Satyrn – was aber durchaus positiv gemeint war!

Dionysos ist ein besonderer Gott, denn er wurde von Zeus selbst ausgetragen und geboren. Die Römer würden später sagen „Er entsprang dem Schenkel des Juppiter“. Damit war der Oberschenkel des Göttervaters gemeint, denn dort wurde der frühgeborene Fötus mithilfe des Hermes eingenäht, nachdem die eigentliche Mutter Semele, eine Sterbliche, in einem Feuer das Zeus verschuldet hatte, umkam – dies jedoch ist eine andere Geschichte.

Und nicht nur die Geburt des Gottes war außerordentlich, auch sein Lebensweg war ein besonderer: Es war der klassische Werdegang eines Heroen.

Um sich vom „Makel“ der Sohn einer Sterblichen zu sein befreien zu können, musste Dionysos sich erst vor den Augen der Götter beweisen.

So wurde der junge Gott zu den Menschen ausgesandt, um, ähnlich wie Jesus, die frohe Botschaft der Götter zu vermitteln und den Ruhm des Zeus zu mehren.

Wie er das anstellte, war Zeus jedoch egal. Hauptsache, es wurde erledigt.

Dionysos also bereiste die Städte und Dörfer der Menschen. Bald schon bedrückte und ärgerte ihn das Los der Menschen, die überall unter dem Joch des Lebens ächzten. Ein Joch, dass sie sich selbst auf die Schultern gelegt hatten. Mit gerunzelter Stirn sprach der Gott zu sich:

„Sieh nur die jammervollen Menschen! Im Würgergriff der Zivilisation haben sie vergessen, welchen Ursprungs sie sind! Dem listenreichen Prometheus gleich haben sie sich nun durch ihre Klugheit selbst in Ketten gelegt. Der Sittlichkeit und der Norm, dem Ideal und dem Gesetz, all jenes nichts weiter als Produkte ihrer Fantasie, haben sie sich restlos unterworfen! Einst frei und nackt und schön, haben sie sich selbst in hässliche Lumpen gehüllt. Die Männer knechteten erst ihre Frauen, dann ihre Kinder und schließlich sich selbst. Allesamt fürchten sie sich vor ihren Gefühlen, nennen ihre Triebe Sünde, glauben sich aber Freunde der Vernunft! So soll dies meine göttliche Aufgabe sein: Ich will den Menschen ihre Freiheit zurückzugeben, ihnen ihre Blindheit nehmen, sie mit ihrer Gefühlswelt versöhnen!“

Aber Dionysos kannte die Menschen schlecht, er unterschätzte deren Starrsinn. Egal mit welcher Inbrunst er auch predigte, egal wie gekonnt er argumentierte, die Menschen verlachten ihn und hießen ihn einen Hochstapler, einen, der nur wirres Zeug sprach. Manche gar erkannten in seinen Worten eine Bedrohung, die die althergebrachten Überzeugungen in Frage stellte und das Fundament der patriarchalisch geprägten Gesellschaft untermauern wollte. Und so wurde Dionysos nicht selten unter Schlägen und Spucken aus den Städten gejagt.

Erschöpft und ratlos, mit blutigen Lippen und zerrissener Kleidung ließ Dionysos sich nach einer weiteren Flucht ratlos und der Verzweiflung nahe im Schatten eines kleinen Haines nieder. Als er sorgengequält nach einigen Trauben griff und sie zwischen seinen Fingern gedankenverloren zerquetschte, fiel ihm plötzlich der Saft auf, der aus den feisten Früchten quoll.

Neugierig benetzte er seine Lippen damit und nahm das Aroma und den Geschmack des Saftes in sich auf. Und da er durchaus auch der Sohn eines Gottes war und somit um ein Vielfaches sensibler und weiser als ein Mensch, erkannte er sofort das Potenzial dieser Flüssigkeit. Wenn man sie nur richtig verarbeiten würde – dann könnte man daraus eine ganz besondere Sache herstellen! Einen Trunk, der die Sinne benebelt, den Trieb enthemmt und den Menschen im Menschen befreit.

Ja, so könnte Dionysos es schaffen die Stimmen der Furcht und des Starrsinns in den Köpfen der Menschen zu dämpfen, so könnte er ihre wilde Natur wieder entfesseln, sie aus ihren Käfigen reißen!

Der durchtriebene Gott wusste plötzlich ganz genau, was zu tun war: Er würde der Menschheit Wein in die Becher gießen.

Dazu musste Dionysos aber die Menschen selbst in die Kunst der Weinherstellung einweihen, aufdass der rote Göttertrunk ewig unter den Sterblichen floss.

Aus der vorerst noch begeisterten Suche nach einem willigen Schüler wurde jedoch mit dem fortschreitenden Tag die niedergeschlagene Suche nach einem Nachtquartier. Die Botschaft über den seltsamen Prediger, der behauptete von den Göttern gesandt zu sein um den Menschen frohe Botschaft zu bringen, hatte sich inzwischen verbreitet. Dionysos war sein Ruf vorausgeeilt und so fand er keinen, der gewillt gewesen wäre sein Schüler zu werden oder ihm auch nur für ein paar Stunden Unterschlupf zu gewähren. Man wollte mit so einem Verrückten, der freie Liebe und unproduktive Lebensfreude – kurzum Wahnsinn propagierte nichts zu tun haben.

Erst als die Sonne längst versunken war und die schöne Selene, der Mond, sich in den Himmel hievte, fand Dionysos schließlich Unterkunft bei einem armen, alten Ziegenhirten der auf den Namen Ikarios hörte und der gemeinsam mit seiner Tochter Erigone in einer kleinen Lehmhütte lebte.

Ikarios erbarmte sich des zerlumpten Wanderers, mit dem schönen aber androgynem Gesicht, dem langen, dunklen Haar und den ebenso dunklen Augen, die über die Sphären des Sichtbaren hinaus zu blicken schienen.

Der alte Hirte teilte ein kärgliches Mahl mit Dionysos und dieser unterhielt ihn im Gegenzug mit Geschichten von den Göttern und Geschichten von seiner Wanderung. Ikarios hörte ihm aufmerksam zu und hatte bald wenig Zweifel mehr daran, dass sein Gast von den Göttern auserkoren war und in seiner Botschaft tatsächlich eine tiefere Wahrheit verborgen lag.

Und bald schämte Ikarios sich seiner Armut und des kärglichen Mals. Dionysos bemerkte das Unbehagen seines alten Gastgebers und beruhigte ihn mit sanften Worten und einem Versprechen: Er würde Ikarios am nächsten Morgen die Kunst der Weinherstellung lehren.

Und Ikarios, der sich geschmeichelt fühlte, Schüler eines Gottes zu werden, willigte ohne zu zögern ein.

So vergingen die Monate und Dionysos, der nicht nur ein sehr unterhaltsamer Zeitgenosse war, sondern auch ein geduldiger und guter Lehrer, konnte bald gemeinsam mit Ikarios den ersten Becher Wein leeren.

Und der Sohn des Zeus hatte nicht zu viel versprochen: Das köstliche Getränk erfüllte seinen Zweck nicht nur, es übertraf alle Erwartungen! Schließlich war ja auch ein Halbgott an der Herstellung beteiligt gewesen.

Ikarios Gefühlswelt wurde in Aufruhr versetzt, so etwas hatte er noch nie erlebt! Sein Herz füllte sich mit dem Schmerz verflossener Liebe, mit der Wut verpasster Gelegenheiten, mit der Freude am Dasein, mit der Erkenntnis nicht nur leben zu müssen, sondern auch leben zu dürfen.

Und auch Erigone wurde von ähnlicher Ekstase erfasst: Gemeinsam sangen, lachten und tanzten sie mit dem Gott, weinten mit ihm, schrien mit ihm den Nachthimmel ob der Ungerechtigkeit des Lebens an, liebten mit ihm jeden Moment davon. Und stetig floss der Wein.

In den nächsten Tagen war Ikarios fest entschlossen diese neue Errungenschaft mit seinen Freunden zu teilen. Er füllte so viele Trinkschläuche mit dem Wein, wie er nur finden konnte, lud sie alle auf einen großen Karren und zog, von Dionysos ermuntert los, um mit seinen Freunden zu feiern.

Als diese von dem Wein kosteten und spürten, wie vernunftloser Irrsinn sich ihrer Geister bemächtigte, da begannen sie sich jedoch zu fürchten Ikarios wolle sie vergiften. In ihrer enthemmten Wut und Panik griffen sie nach dem alten Hirten, der ihnen nicht gewachsen war, drückten ihn in den Staub und erschlugen ihn mit Stöcken und Steinen. Erigone, die den verheerten Leichnam ihres Vaters fand, nahm sich daraufhin mit einem Strick das Leben.

Dionysos musste einsehen, dass sein Vorhaben ein weiteres Mal gescheitert war und sein Weg zum Gott nicht allmählich zu Ende ging, sondern gerade erst ihren Anfang nahm. Die Menschen hatten noch viel zu lernen, der Wein allein würde sie nicht von ihrer Blindheit heilen. Noch lange würde Dionysos durch die Welt der Menschen wandern, bis nach Indien gelangen und wieder zurück, den Sterblichen seine Lehren bringen und mit ihnen den Wein. Noch oft würde er auf Widerstand stoßen, sogar Könige würden sich ihm noch in den Weg stellen. Doch sein Siegeszug war schlussendlich unaufhaltsam. Die Menschen sowie die Götter würden sich schließlich beugen vor dieser mal fürchterlichen und irrwitzigen, mal wundervollen und befreienden Macht die er über sie entfesselte. Manchen Quellen zu Folge würde Dionysos es sein, der als letzter Weltenherrscher nach Zeus den Thron besteigt und über den Kosmos herrscht.

Dennoch bedauerte Dionysos das Opfer, das Ikarios und seine Tochter in seinem Namen bringen mussten. Von Schuldgefühlen und Trauer gepeinigt, hob er den Wagen des Ikarios mitsamt den verhängnisvollen Weinschläuchen an den Himmel um seinen ersten Freund unter den Menschen ein ewig leuchtendes Denkmal zu setzten.

INFOBOX:
Erweitert man den großen Wagen um ein paar Sterne, so wird daraus das Sternbild des Großen Bärs, von dem in einem anderen Artikel die Rede sein wird.
In der Nähe des Großen Wagens kann man auch den Bärenhüter finden, der, passend zum beschriebenen Mythos, neben anderen Figuren aus der Mythologie eben auch Ikarios darstellt, den Dionysos somit gemeinsam mit dem Wagen in den Sternenhimmel versetzt hatte.
Interessant sind auch die Parallelen zum Orionmythos, den sie gerne hier nachlesen können: https://blog.dorfzeitung-inzing.at/?p=1050
Für alle, die sich nun selbst gerne auf die Suche nach den Sternbildern machen möchten, empfehle ich die App “Star Walk 2” für Smartphones und Tablets, oder eine klassische, drehbare Sternenkarte aus Karton. Ansonsten kann man auch über folgenden Link völlig kostenfrei über den Himmel navigieren!
https://www.astronomie.de/der-himmel-aktuell/?no_cache=1

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Pascal Takes

Pascal trat dem Team im November 2019 bei. In Inzing ist er außerdem Mitglied des Kulturvereins und Mitarbeiter in den Kinder- und Jugendbetreuungseinrichtungen. Besonders interessiert er sich für Sprachen, Evolutions- und Kulturgeschichte. Eine Welt ohne Halbwissen wäre Pascal's Überzeugung nach einer Welt ohne Hass. Im Dienste dieser Überzeugung versucht er wirksam sein.

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