Einleitende Bemerkungen
Für 25. und 26. Oktober 2020 war in Hatting die Vortragsreihe “Hatting Anno – Vortrag über die Zeit von 1800 bis 1900” von Markus Geyr geplant. Aufgrund der sich zuspitzenden Corona-Situation musste die Veranstaltung kurzfristig abgesagt werden. Sobald es die Umstände erlauben, wird “Hatting Anno” vom Verein Kultur.Hatting nachgeholt. Ein entsprechender Veranstaltungshinweis wird auch im DZ-Blog erscheinen.
Die gegebene Konstellation der Ereignisse habe ich zum Anlass genommen, Markus Geyr zu bitten, uns einen gerafften Einblicke in die Situation von Inzing im 19. Jahrhundert zu geben, da es – so die wohlbegründete Annahme – sicherlich Parallelen bzw. Überschneidungen geben wird.
Ich möchte mich ganz herzlich bei Markus für seine spontane Bereitschaft, dieser Bitte nachzukommen, bedanken.
Luis Strasser
1809 ist eine Jahreszahl, die wohl jedes Kind in Tirol in Zusammenhang mit dem Namen Andreas Hofer und den Freiheitskriegen bringt. Doch während des 19. Jahrhunderts hat es im Dorf einschneidende und gravierende Ereignisse gegeben, von denen heute keiner mehr etwas weiß. Es gibt keine Zeitzeugen mehr, doch so manches ist von Chronistenaufzeichnungen, alten Karten und Bildern erhalten geblieben.
Bevölkerungsrückgang
1034 Bewohner zählte man im Jahr 1826 im Ort und im Jahr 1900 waren es 905. Was mag uns das wohl sagen?
Es war keine gute Zeit. Weder die Bayrischen Besatzer noch die Wiener Regierung kümmerten sich um das Land. Hunger und Armut waren weit verbreitet, die Realteilung, bei der große Höfe so oft auf Geschwister und Nachkommen aufgeteilt wurde, dass man davon nicht mehr leben konnte, förderte die bedrängte Lage zusätzlich. In Inzing vermurte der Hundstalbach mehrmals den Ort und vernichtete fruchtbare Äcker und Wiesen. Schadensfeuer zerstörten die ärmlichen Behausungen der Bewohner und regelmäßige Innüberschwemmungen ruinierten die Ernte und brachten manche Hungersnot. Deshalb wanderten viele Leute aus Inzing ab oder gar nach Übersee aus. Zahlreiche Güter standen zur Versteigerung.
Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts gab es dann wieder Kriege an der Südgrenze des Landes, wo auch viele Inzinger Männer und Burschen einrückten und gefallen sind.
Die Leute waren damals nicht so informiert über die Geschehnisse in der Welt wie heute, entsprechend klein war der Gedankenhorizont. Dennoch befindet man sich im 19ten Jahrhundert auch in Inzing noch in der Spätromantik, was heißen mag: Es bestand eine starke Hinwendung zur Sagen- und Mythenwelt. In Inzing gibt es zahlreiche Sagen, Geschichten und Mythen aus jener Zeit.
Wie mag es damals im Dorf wohl ausgesehen haben?
Auf dem Bild sehen wird eine alte Ansicht von Inzing im frühen 19. Jahrhundert. Es zeigt den damaligen Wallfahrtsort Inzing von Westen. Der Maler befindet sich am alten Verlauf des Enterbaches, wo sich damals eine Brücke befand. Heute verläuft hier der Schleifmühlweg auf der Höhe südliches Spielplatzende. Fluchtet man die Kirchturmspitze zwischen kleinen Wandkopf und Hochwandkopf oberhalb der Martinswand, so steht man am Standort des Zeichners. Die Position einzunehmen, sodass die Kirchturmspitze den Horizont überragt, ist heute unmöglich. Das Gelände war hier vor 200 Jahren um einige Meter tiefer, denn die vielen Muren haben in diesem Bereich bis zu 8 Meter Schutt abgelagert.
Der Mythos vom Blick auf die Hattinger Kirchenspitze
In Erzählung von alten Inzingern wurde gesagt, dass man vor der “Siebenermure” (1807) vom Inzinger Kirchplatz ungehindert den Hattinger Kirchturm hätte sehen können. Was heute fast unwahrscheinlich erscheint, könnte Anfang der 19 Jahrhunderts möglich gewesen sein. Nun, die beiden Kirchtürme liegen in der geraden Luftlinie 2119 m voneinander entfernt. Die direkte Sichtlinie verläuft zirka über die Höhe der Murkapellenkreuzung.
Die Meereshöhe beim Kirchausgang ist bei beiden 616 Meter über Adria.
Blickt jemand nun vom Inzinger Kirchplatz Richtung Hattinger Kirchturmspitze, so ist ihm außer der Mauer auch die Anhöhe bei der Murkapelle im Weg.
Das Gelände bei der Murkapellenkreuzung liegt bei 643,4 Meter über Adria.
Dass man zumindest die Kirchturmspitze von Hatting erspähen kann, dürfte das Gelände hier maximal 635,7 Meter über Adria liegen. Das sind ca. 8 Meter zu viel. Bedenkt man die massigen Ablagerungen von den Muren 1807, 1879, 1929 und 1969 in diesem Bereich, so können leicht einmal 8m zusammenkommen. Also der Mythos vom Blick auf die Hattinger Kirchenspitze könnte durchaus wahr sein, wenn die Ausschau vor rund 200 Jahren stattgefunden hat. Die Innkarte von 1800 zeigt höchstwahrscheinlich das Gelände von den vorgenannten Muren. Leider sind in dieser Karte keine Geländepunkte vermerkt, denn dann könnte man nachvollziehen, wieviel die Muren Schutt abgelagert haben.
Die „Siebenermure“
In der Kirchenchronik berichtet der damalige Vikar Dyonisius Puecher über dieses Unheil Folgendes:
“In diesem nämlichen Jahre 1807, den 29. August suchte Gott Inzing mit einem ungeheuren Murbruch heim, der das ganze Dorf und alle Häuser mehr oder weniger so auch die Felder beschädigte und bei 10 kleinere Häuser ganz hinwegnahm, selbst das Gotteshaus wurde bei 5 Schuh hoch eingelettet und mit Steinen von 40 Zentnern schwer belegt. Nur war es ein großes Glück für das Dorf, dass sich der Bach in mehrere Fäden verteilte, sonst müsste im ganzen Dorf wohl kein Kamin mehr stehn geblieben sein, in dem viele Steine herabgewälzt wurden, die Sachverständige auf 700–900 Zentner schätzen.
Ich bin in meinem Widum geblieben, im nachmaligen Metzgerhaus, und wurde bald mit 18 Personen, die dahin ihre Zuflucht nahmen von vorn und Rücken vom Bach eingeschlossen, sodass ich durch die ganze Nacht die augenscheinliche Todesgefahr aushalten musste, bis gegen Morgen die Gewässer gesessen sind.”
Quelle: Dorfbuch Inzing von Ernst Pisch
(Abschrift eines Werkes von Franz Pisch/Großvater von Ernst Pisch: veröffentlicht im Internet ab 2003:
https://ernst.pisch.at/wissen/Dorfbuch/Dorfbuch.html)
Das Dorfleben damals
Inzing war um 1900 eine reine Bauerngemeinde. Fast in jedem Hause bestand ein landwirtschaftlicher Betrieb, freilich war er mitunter so klein, dass er die Nutznießer nicht ernähren konnte.
Auszug aus der Pisch-Chronik:
“Unser Dorf sah 1900 anders aus als jetzt. Einige Schlagwörter mögen dies verdeutlichen: keine asphaltierten Straßen, Kot und Wasserlachen nach Regen auf den Wegen; während des Winters Schellenklingel der Schlitten und bei genügendem Schnee Schleifen von Blockholz in mehreren ,,Gehängen“; im Spätwinter und Vorfrühling die Geräusche der schnarrenden Sägen und der holzhackenden Männer; Fuhrwerke mit Pferden oder Kühen; keine Autos, keine Traktoren, kein Gestank nach Benzin und Dieselöl; nur wenige Fahrräder; hoch mit Heu beladene Wagen im Sommer; kaum landwirtschaftliche Maschinen; noch keine umfangreiche Tätigkeit der 1888 gegründeten Raiffeisenkasse; geringere Hektarerträge auf Äckern und Wiesen; leichtere Rinder; Kinder, Schafe, Hühner, mitunter auch Ziegen belebten die Straßen; krähende Hähne melden sich von Hof zu Hof; Düngerstätten und Jauchengerinne am Rand der Wege, viele Fliegen; kleine Rinnsale (,,Ritschen“) neben der Straße für das Abwasser nach Regen und für das Löschwasser zur Feuerbekämpfung; darüber lagen vor den Hauseingängen Stege, die bei Hochwettern das Gerinne verstopften und die Straßen überschwemmten; ,,Ätzefahren“ mit den Rindern im Herbst; blökende Schafherden am Morgen und Abend während der Weidezeit; täglicher Viehbetrieb zu den Dorfbrunnen; Neuigkeitsaustausch der Frauen beim plätschernden Brunnen; vor den Häusern Bänke, auf denen die Leute mit ihren Nachbarn ,,hoangerten“; kein elektrischer Strom, keine Leitungsdrähte; dunkle Straßen und Gassen während der Nacht; wenig Mietparteien, keine Pendler; eine geregelte, unantastbare bäuerliche Lebensordnung, die in Natur, Tradition und Kirche fest verankert war.”
Ortsansichten
Fotographien vor 1900 sind sehr selten, so existieren von unserem Dorf aus dem 19. Jahrhundert nur wenige Gemälde, Postkarten bzw. Votivtafeln, die einen Einblick ins damalige Ortsbild geben.
Volkscharakter
Wie die Tiroler Bevölkerung im Allgemeinen so zu beschreiben war, was die Menschen beschäftig hat, wie sie gedacht haben, darüber gibt ein Bericht des Richters zu Hörtenberg aus dem Jahr 1816 Auskunft:
“Die Einwohner sind ein fester, kernhafter, schlanker Stamm eines deutschen Volkes, das starke Züge im Gesichte hat, die … durch das allgemein bei Jung und Alt (doch nur männlichen Geschlechtes) geübte Tobbak-Rauchen aufgefurchet werden.
Diese Bemerkung möchte besonders durch den auffallenden Unterschied des weiblichen Geschlechtes verificirt werden, da das Weib fast durchaus stämmiger, und nicht mit so starken Gesichtszügen schattieret ist, als wie der Mann.
Wenn schon alle die deutsche Sprache sprechen, so reden sie doch alle den Oberinthaler Dialekt; und fast jede Gemeinde hat ihren eigenen Akzent, aus dem mit Rückblick auf die Tracht es ein leichtes wird, jeden gemeinen Mann sogleich anzukennen, von welcher Gegend oder Gemeinde er ist.
Vor noch nicht langer Zeit hatte jede Gemeinde ihre eigene National Tracht; der Luxus, der häufige Verkehr mit der in- und ausländischen Nachbarschaft, die zeitlichen Auswanderungen, und mitunter die Not, die den Menschen bestimmet, sich auf die tunlichste Weise zu hüllen, brachten ein buntes Gemisch in die National Trachten; doch hat sich noch immer eine fast durchaus herrschende Eigentümlichkeit in jedem Gemeinde Bezirke erhalten. …
Für die Gesundheit des hohen Tal- und Bergbewohner, den so genannten Hoch-Bauern, ist der Stoff der Kleidung keinerdings gleichgültig; er lebt in einem sibarischen Klima, und wenn er sich nicht mehr mit Tierhäuten umfängt, so stehen ihm doch nur einzig die grob-schafwollenen Kleider an, die der Kälte, und der Nässe gleich widerstehen, sein äußeres Ansehen aber so ziemlich Bären ähnlich machen. Dieße Kleider aus Loden gemacht fabriziert er sich selbst; seine Schafe bringen ihm die Wolle, das häusliche Weib kurtatschet solche und spinnt den Faden, und der Weber wirket ihm in seinem Taglohne ein Tuch, das ihn durch ein Decennium vor die tückischen Anfälle der rauhen einheimischen Witterung schützet, und ihn felsenfest machet.
Durch Verdrängung dieser von der Natur weislich vorgezeichneten Kleidung der Bergbewohner hat nicht nur der Gesundheitszustand, sondern auch die häusliche Wirtschaft gelitten; das Kleid, welches aus der eigenen häuslichen Werkstätte kommt, verursachet keine baren Auslagen, und verdanket dem täglichen Hausfleiße sein Dasein; dagegen kostet das neumodische Kleid den baren Pfenning, der zu anderen Zwecken verwendet werden könnte. …
Der Charakter der Einwohner dieses Landgerichtes ist … bieder. Stolz ist dem Volke eigen; selbst als arm bestrebt es sich wohlhabend zu scheinen, und ergreifet gierig jede Gelegenheit, eine glänzende Außenseite zu zeigen; daher die viele Auszeichnung durch Federn, gestickte Hutbänder, Goldborten, große Mänteln, und andere Auffallenheiten.
Dieser Stolz verleitet den Mann oft zu gewaltsamen Handlungen, besonders wenn er gereizet wird, und dem Weibe ist nichts empfindlicher als Kränkung seines Eigendünkels. Hierin liegt die Ursache, warum der Bewohner dieser Landes Strecke grob, unfreundlich, und zurückschreckend wird, bei mehr Gefälligkeit möchte man dessen Umgang suchen, da es ihm an Geist nicht fehlt, der anziehet.“
KURZINTERVIEW: Drei Fragen an Markus G.
DZ: Was war der Anlassfall für das Projekt “Hatting Anno”?
MG: In der Hattinger Chronik gibt es nur sehr wenige Angaben zu dieser Zeit. Neue historische Quellen, wie zum Beispiel das digitale Zeitungsarchiv der österreichischen Nationalbibliothek sowie die Innstromkarte 1820, und mehrere Originaldokumente aus jener Zeit haben mich bewogen, dazu eine Ausstellung zu machen. Weiters gab es kürzlich einen „archäologischen“ Fund in Hatting, der auch einen Anstoß gab.
DZ: Gibt es auffallende Unterschiede zwischen Hatting und Inzing in der relevanten historischen Epoche?
MG: In gesellschaftlicher, sozialer Sicht wahrscheinlich nicht. Jedoch war Inzing damals ein Wallfahrtsort, dem es wirtschaftlich sicher ein wenig besser ging.
DZ: Was kann die heutige Gesellschaft von der regionalen Geschichtsbetrachtung (des 19. Jahrhunderts) lernen?
MG: Meiner Meinung nach haben wir aus unserer regionalen Geschichte gelernt und die richtigen Schlüsse daraus gezogen. Betrachte man nur unser gutes heimisches Sozial- und Gesundheitssystem. (Muss heute noch jemand aus Existenzgründen auswandern?)
Wirtschaftlich wurden sogar in jener Zeit von dem bedeutenden Inzinger Josef Klotz durch Einrichtung einer Raiffeisenkasse bedeutende regionale Verbesserungen eingeleitet. Inzing wiegt sich seit Jahrzehnten in Sicherheit vor Muren und Überschwemmungen, die Katastrophendienste gewähren uns Sicherheit.
Was die Moralvorstellung des 19. Jahrhunderts betrifft, möchte ich keinesfalls mit heute tauschen. Mögen sich die Leute im Dorf damals wohl alle gut gekannt und sich gegenseitig beigestanden haben, so wurden doch in dieser Zeit die Grundlagen in den Köpfen der Menschen geschaffen, die später zwei Weltkriege ermöglicht haben.
DZ: Vielen Dank, Markus!
PORTRÄT von Markus G.
Markus Geyr (Jahrgang 1964) ist 1998 von Hatting nach Inzing/Mühlweg gezogen und beschäftigt sich seit über 10 Jahren mit Familienchronik, regionalen historischen Themen und Volkskunde. Aus seiner beruflichen Tätigkeit als Raumplaner ergab sich ein großes Interesse an der Entwicklung der Dörfer und deren Ortsbilder.
Vielen ist Markus als exzellenter Musiker bekannt. Siehe dazu den Bericht “Jazz aus Österreich, teilweise mit Inzingbezug” von Peter Oberhofer im DZ-Blog vom 11.11.2020:
https://blog.dorfzeitung-inzing.at/?p=3019
Veranstaltungen, die von Markus initiiert und (mit)gestaltet wurden/werden:
– Oktober 2017: „Fenster in die Vergangenheit“ / Veranstalter: Chronikteam Inzing
https://www.youtube.com/watch?v=QcxN7YDBzWk&t=1367s&ab_channel=ErnstPisch
– März 2018: „Wandern auf alten Pfaden“ / 1. Teil, Veranstalter: ES Inzing
– November 2018: „Wandern auf alten Pfaden“ / 2. Teil: Veranstalter: ES Inzing
– Februar 2019: Ausstellung „In einer Zeit vor der Fotographie“ / Schaukasten Chronikteam Inzing
– 2021: „Hatting Anno“ (geplant im Frühjahr 2021)