25. April 2024
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Zweierlei Maß?

Lesedauer ca. 4 Minuten

Aktuell schwappt eine riesige Welle der Hilfsbereitschaft über Europa. Die Bevölkerung der Ukraine erleidet schreckliche physische und psychische Qualen und muss zusehen, wie ihr Land von Tag zu Tag weiter zerstört wird. Zukunftsträume ganzer Generationen platzen und es geht oft nur mehr um das nackte Überleben. Die Bereitschaft, der geplagten Bevölkerung und den Flüchtenden zu helfen, ist überwältigend. Eigentlich sollte man sich über diesen Zusammenhalt der sogenannten westlichen Welt freuen.

Aber seit Denkmäler nachts in den Nationalfarben der Ukraine beleuchtet werden, seit sogar Firmen in noch nie erlebtem Ausmaß Hilfssammlungen organisieren und seit das Leid dieses Landes zum Hauptthema in den Medien wurde, ergreift mich ein immer stärker werdendes, beklemmendes Gefühl der Scham. Wo sind die Fahnen all der anderen Länder, die dringend Hilfe benötigt hätten oder immer noch benötigen? Wo die Sanktionen für Länder, welche ebenfalls über ihre Nachbarn (oder sogar über Länder am anderen Ende der Welt) herfallen? Wo die Rufe nach Bestrafung in Den Haag für all die Verbrechen der vergangenen Jahrzehnte? Wo die Gleichbehandlung der Menschen unabhängig von Herkunft, Sprache, Aussehen usw. … wo … wo!? Wie müssen sich jene Menschen fühlen, denen dasselbe Leid widerfahren ist, die aber auf taube Ohren oder gar heftige Ablehnung gestoßen sind? Welches Gefühl der Hoffnungslosigkeit müssen Menschen ertragen, deren Angehörige ermordet und Lebensexistenzen zerstört werden, deren Hilfeschreie aber niemand hört?

Wird vielleicht nicht doch auch in unserer vielgepriesenen „Werte-Gemeinschaft“ nur allzu oft nach zweierlei Maß gemessen?

Wer in Russland aktuell von „Krieg“ spricht, riskiert harte Strafen. Maßnahmen, welche für unser Demokratie- und Gerechtigkeitsverständnis völlig inakzeptabel sind.

Seit Julian Assange von Kriegsverbrechen der USA im Irak berichtete, sitzt er fest und es drohen ihm drakonische Strafen (falls das überhaupt noch schlimmer sein kann, als die bisherige psychische Zermürbung). Diese Tatsache wird in unseren Medien bestenfalls mal kurz erwähnt, findet jedoch kaum den Platz auf einer Titelseite. Dass im Jemen seit 2015 mehrere hunderttausend Menschen an den Folgen des Krieges gestorben sind, findet hier ebenfalls kaum Beachtung. Afghanistan war schon Ziel ausländischer Angriffe als ich noch in der Schule war (vor mehr als vierzig! Jahren). Die Argumente sind immer wieder dieselben – es geht um Diskriminierung und Schutz gewisser Bevölkerungsgruppen, um Terrorismus, um Verteidigung nationaler Interessen usw.

Die wahren Interessen wie Kontrolle über Ressourcen oder strategische Einflussnahme auf Regierungen waren und sind nie die offiziell genannten Gründe eines Angriffes.

Die 80er-Jahre waren sehr stark geprägt von einer ständigen Angst vor einem Atomkrieg. In der Schule wurde darüber gesprochen, ob im Falle eines Angriffes Jod-Tabletten verteilt werden sollen, um die Aufnahme radioaktiver Substanzen  in den Körper zu reduzieren. In den Kinos lief der Film „The day after“, welcher Bilder von desaströsen Zustände nach einem atomaren Schlagabtausch in unsere Köpfe meißelte.

Ein halbes Jahr, nachdem meine Tochter zur Welt kam, im Oktober 1989, fiel die Berliner Mauer. Es zeichnete sich Entspannung ab und man begann ernsthaft von einer friedlichen Zukunft zu träumen. Die Sorgen um die Zukunft der eigenen Kinder schwanden.

Als dann 1991 der Warschauer Pakt (das militärische Beistands-Versprechen der Ost-Staaten) aufgelöst wurde, empfand ich riesige Erleichterung und hatte erwartet, dass nun auch die NATO schon bald ihr Ende ankündigen würde. Leider weit gefehlt! Zwar wurde die Zahl der Streitkräfte zunächst stark reduziert – ohne Feind war diese nicht mehr begründbar. Ich kann mich noch gut erinnern, wie wütend ich darüber war, als die NATO dann aber im Jahr 1997 ihre Grenzen nach Osten um die Länder Polen, Ungarn und Tschechien erweiterte. Schon damals war ich mir sicher, dass damit eine einmalige Chance für langwährenden Frieden verspielt war.

Selbstverständlich weiß man nicht, wie sich die Situation ohne NATO entwickelt hätte – manche Dinge kann man nicht einfach rückgängig machen und nochmals, aber anders, austesten. Ich bin jedoch überzeugt davon, dass die heutige Situation nicht schlechter wäre.

Parallel zu diesen Entwicklungen kam die Globalisierung immer mehr in Schwung. Den Kritikern der Globalisierung, welche über die Gefahr von Abhängigkeit, von Ausbeutung, Lohn- und Sozial-Dumping usw. sprachen, begegnete man u.a. damit, dass eine gegenseitige Abhängigkeit sogar stabilisierend wirke. Wer vom Nachbarn abhängig ist, hätte mehr Interesse daran, dass es diesem nicht schlecht ginge – ein Argument, welches plausibel erscheint.

Was aber bleibt davon übrig? Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine überbietet man sich geradezu mit immer noch härteren Sanktionen und stellt gleichzeitig besorgt fest, wie sehr man doch vom „russischen Bären“ abhängig sei. Nun seien wir mal ehrlich: Wir sind doch von der noch stärkeren Großmacht, den USA, mindestens ebenso abhängig. Und war deren Verhalten in den vergangenen Jahrzehnten friedlicher? Hatte man über Sanktionen gesprochen, geschweige denn welche umgesetzt? Ich möchte gar nicht erst versuchen, hier eine Anzahl an Opfern gegenüber zu stellen, um den schlimmeren Bösewicht herauszufinden. Außenpolitisch scheint es keinen allzu großen Unterschied zu geben, ob das Land nun demokratisch oder autoritär regiert wird, was den Umgang mit anderen Ländern betrifft.

Was nun an erster Stelle stehen sollte, wäre doch, dass man schleunigst einen Waffenstillstand ausverhandelt. Denn was ist wichtiger? Der Stolz, es dem übermächtigen Gegner „zu zeigen“ und koste es das Leben Tausender? Oder das Leben der Zivilbevölkerung, der Schutz von Arbeitsplätzen und Wohnungen, eine funktionierende Landwirtschaft usw.?

Stattdessen werden Regierungen unter Druck gesetzt, Waffen zu liefern und damit das Leiden und Sterben auf beiden Seiten zu verlängern. Wem helfen diese Waffen? Sicherlich der Waffenindustrie und jenen, die sich auf der anderen Seite des Ozeans befinden und aus weiter Ferne beobachten, wie sich Europa selbst schwächt und der Gefahr eines völlig außer Kontrolle geratenen Krieges nähert.

Ich möchte mir keinesfalls anmaßen, klüger zu sein als all die erfahrenen Diplomaten und Friedensverhandler. Aber in einer Sache bin ich mir absolut sicher: Wer nicht versucht, den Gegner zu verstehen, wird keine Chance auf Erfolg haben. Wer Menschen pauschal als sogenannte „Putinversteher“ diffamiert, zeigt klar und deutlich, dass er keinerlei Interesse an einem Verhandlungserfolg hat. Politiker, Medien oder sonstige Personen, die sich auf diese Weise äußern, haben mein Vertrauen komplett verspielt. Zu versuchen, jemanden zu verstehen, heißt noch lange nicht, dessen Meinung und Ansicht gut zu heißen. Aber es ist zwingend notwendig, um Lösungen anbieten zu können, welche einen Konflikt auf friedliche Weise beenden.

Einen allerletzten Gedanken möchte ich hier auch noch loswerden:

Egal von welcher Regierung eine militärische Aggression ausgeht, Opfer gibt es immer auf beiden Seiten. Die Leidtragenden sind nur selten jene, die für die fatale Entscheidung verantwortlich sind. Krieg ist immer ein Verbrechen und je länger ein Krieg dauert, umso mehr Verbrechen geschehen auf beiden Seiten. Wer über längeren Zeitraum Ungerechtigkeit und schreckliche Dinge erleben muss, wird früher oder später selbst Schreckliches tun.

Gemeinsam sind wir stark! Aber lasst uns – jeder für sich – sehr genau überlegen, welches Ziel wir wirklich gemeinsam verfolgen wollen. Denn nichts wäre fataler, als ein kollektiver Irrtum.

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Ernst Pisch

Ernst fotografiert in seiner Freizeit leidenschaftlich gerne und interessiert sich für die Technik, welche dahintersteckt. Während der oft längeren beruflichen Fahrten von und zu den Kunden denkt er unter anderem auch gerne darüber nach, warum die Welt genau so ist, wie sie ist. Dabei entstehen Fragen und manchmal auch neue Interessen, Ideen und Erkenntnisse, welche er gerne mit anderen teilt.

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