28. März 2024
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Pflege(heim)notstand

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Lesedauer ca. 4 Minuten

Früher oder später sind wir pflegebedürftig oder pflegende, betreuende Angehörige. Das heißt: Es geht um eine große Sache, wenn nicht die größte.

Wenn der Duden „Würde“ unter anderem als „ein einem Menschen/Wesen innewohnenden Wert“ definiert, dann ist die Brücke zum „Kleinen Prinzen“ leicht gespannt, in dem davon die Rede ist, dass das Wesentliche nur mit dem Herzen wahrgenommen werden kann. Äußerlichkeiten erfassen nie die Tiefendimension eines Menschen und auch nicht die eines Heimes. Auch wenn das Arbeitsfeld der Altenarbeit natürlich von Äußerlichkeiten, wie Strukturen, Rahmenbedingungen bedingt wird, so gibt es immer auch die innerliche Verfasstheit, die von Einstellungen, Haltungen, Überzeugungen getragen wird. Keine behördliche „Einschau“, kein Kontrollmechanismus verfügt über Instrumente, die Wirksamkeiten und das Wesen eines Alten- und Pflegeheimes ganzheitlich erfassen.

Ein pflegebedürftiger Mensch ist und bleibt ein „Mysterium“, das sich uns und unseren Mitarbeitenden vielleicht dann erschließt, wenn wir das Fenster der eigenen Verletzlichkeit und Betroffenheit offen lassen. Der Blick auf den alten Menschen und auf den Alltag der Betreuer*innen und Pfleger*innen braucht einen besonderen Zugang. Der Mit-Mensch von heute, insbesondere der Betreuungs- und Pflegebedürftige fällt unter die Räuber. Die Räuber der Überbürokratisierung, Ideologien und Ökonomisierung. Während sich kein Kindergarten, keine Schule, keine Spiel- und Sportstätte, keine Bundes- und Landesstraße „rechnen“ muss, im Bereich der Altenpflege wird dies Tagsatz-geplagt permanent eingefordert.

Wenn wir nicht mit der Blindheit der Oberflächlichkeit, Verdrängung, Flucht vor der eigenen unausweichlichen Zukunft geschlagen sind, so müssen wir uns radikaler dem Anspruch stellen, dass wir alle die Schmiede unserer Zukunft sind. Die Sorge darum, dass wir auf der letzten Wegstrecke des diesseitigen Lebens von beherzten, fürsorglichen, respektvollen und kompetenten Menschen und einer Lebens freundlichen und Freiheit liebenden Umgebung beschenkt sind, ist DIE Zukunftsaktie für jede und jeden von uns und erfordert einen mutigen persönlichen Zugang. Es braucht ein stetes Ringen jenseits von Wehleidigkeit, Standesdünkel, Kompetenzstreitigkeiten und Jammerei.

„Ist da jemand?“ Dieser bekannte Slogan der ORF-Aktion „Licht ins Dunkel“ lässt sich unschwer auf das Feld der Altenpflege übertragen. Pflegende und betreuende Angehörige, meist in der Überforderung, stellen die Frage ebenso wie der pflegebedürftige Mensch in seiner Unsicherheit, Angst und Sorge. Genau stellen sich die Frage die Führungskräfte in der Altenarbeit in ihrer Suche nach geeignetem, qualifiziertem und engagiertem Personal und nach Rahmenbedingungen, die gut genug sind, Mitarbeitende zu halten. Nicht zuletzt stellen sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Frage in ihrer Suche nach hilfreicher und kollegialer Hand und nach erfüllter Zeit.

Der Einstieg und das Durchhalten in der Altenpflege erfordert Mut. Nicht selten ist der Berufsalltag eine Zumutung. Sich tagtäglich der eigenen und der Anvertrauten Endlichkeit zu stellen, den Verlust als durchgehende Melodie zu erfahren, hineingezogen zu werden in Angehörigenkonflikte, in die Enttäuschung ob des nicht gelebten Lebens, in Schuld und Unversöhnlichkeit. Das erfordert starke, gefestigte und reflektierte Menschen. Personalentwicklung im Kontext der helfenden Berufe bedeutet vor allem Persönlichkeitsentwicklung.

Das Diktat des Geldes, der rasenden Zeit oder der mehr oder weniger starke Generalverdacht, man tue nicht das Allerbeste für die Anvertrauten; schamlose Zuweisungen, dass das Heim sowieso nur die letzte und nicht beste Lösung sei – das benötigt viel Frustrationstoleranz und Langmut. Langmut auch ob des „immer mehr vom selben“.

Ich kann es nicht mehr hören: mobil beziehungsweise ambulant vor stationär. Das ist einfach und immer öfter falsch. Die Motive dahinter finden wir nicht selten im Diktat des Sparstiftes und der Kostenminimierung oder Kosteneindämmung. Wer auf der Strecke bleibt sind zum einen überforderte, ausgepowerte Angehörige und zum anderen die Betroffenen selbst, die sich irgendwann in der Gefangenschaft ihrer nicht barrierefreien Wohnung und in der Isolation vom öffentlichen Leben entdecken müssen. Zu glauben, dass die 24-Stunden-Betreuung eine Lösung darstellt, ist kurzsichtig und halbseiden in ihrer Legalität und Legitimation. Sie kann maximal als Überbrückungshilfe betrachtet werden. Sie ist sozial ungerecht. Nur ein gehobener Mittelstand mit zusätzlichem Wohnraum kann sie sich leisten und sie ist eigentlich ein bedenklicher Rückfall in die Dienstbotengesellschaft des 19. Jahrhunderts.

Wie positionieren wir uns auch vor dem Hintergrund überzogener Erwartungen und fehlender nachhaltiger Konzepte auf der Großbaustelle der Pflege – die derzeit keinem Generalplan unterliegt?

Meiner Ansicht nach braucht es den Aufschrei der Heim- und Pflegedienstleitungen und der Heimträger, die zunehmend mit dem Auseinanderklaffen der Kostenschere zwischen zugestandenen Tagsätzen, begründbaren Realkosten zu kämpfen haben. Vor allem aber mit einer noch nie dagewesenen Personalnot.

Setzen wir uns an die Spitze einer bürgerschaftlichen Bewegung, die Bewohnerinnen und Bewohner sowie deren Angehörige, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und deren Angehörige, Lieferanten, Freunde usw. mit auf die Reise nimmt! Wir sind nicht berufen, länger Verwalter und Kompensatoren des Mangels und der Ignoranz zu sein. In dreißig bis vierzig Jahren wird sich die Zahl der Pflegebedürftigen verdoppelt haben. Ein Viertel der österreichischen Bevölkerung wird direkt oder indirekt tagtäglich mit der Herausforderung der Altenpflege konfrontiert sein. Das erfordert jetzt einen beherzten Zustieg. Manchmal hab ich das Gefühl, dass Verantwortungsträger in unserem Land am ‚Kobra-Syndrom‘ leiden. Angesichts der realen Bedrohungen und enormen Herausforderungen reagieren sie mit Schockstarre oder ergreifen die Flucht. Nebenbei gesagt: Ich ärgere mich täglich über die Ablenkungsmanöver unserer Politiker. Flucht und Asyl als scheinbar größtes Thema permanent und populistisch zu kommunizieren ist Verantwortungs-Flucht vor den viel größeren Themen, die wir in Zukunft zu bewältigen haben. Pflege ist meines Erachtens eines der vorrangigsten und schreit schon lange nach einem eigenen Ministerium, zumindest einem ressortübergreifenden Staatssekretariat.

Du wirst vielleicht sagen: Das geht alles nicht. Wir haben nicht die Ressourcen, haben nicht die Zeit. Wir haben nicht den Rückhalt der Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die uns dauernd mit Doppelbotschaften begegnet: „Heime sind out. Ich brauche einen Heimplatz. Ihr kostet zu viel. Mein Vater soll das Bestmögliche bekommen. Ihr macht so großartige Arbeit. Ich könnt‘ das nicht.“

Die Antwort darauf kann nur lauten: „Sie sagen, Sie könnten das nicht? Vermutlich haben Sie recht. Vielleicht auch, weil Sie es noch nie probiert haben. Aber eines sage ich Ihnen: Wir können es! Lassen Sie es uns tun! Yes, we can! Let’s do it!!

Anmerkung zur Situation im Heimatort:

Die Errichtung eines neuen „Pflegeheimes“ in Inzing ist längst überfällig. Ich versteh‘ die Bedenken der politisch Verantwortlichen, die Sorge haben, dass es dafür nicht ausreichend Personal geben wird. Ich glaube auch nicht, dass dieses Vorhaben von einer Gemeinde allein (insgesamt von den Gemeinden) zu stemmen ist. Das Projekt gehört überregional, ja landesweit gedacht. Vor allem unter Einbindung der neuen Landesregierung. Der Pflege- und Betreuungsnotstand ist enorm. So fehlt es massiv an Übergangs- und Kurzzeitpflegeplätzen. Das Entlassmanagement der Krankenhäuser kollabiert tagtäglich an nicht vorhandenen Plätzen. Es fehlt an speziellen Plätzen für Menschen mit schweren Behinderungen, betreubaren und generationsübergreifenden Wohnformen. Eine jahresdurchgängige Tagesbetreuung muss eine Selbstverständlichkeit sein, nicht wie zuletzt monatelang ausgesetzt.

Gängige Organisationsformen greifen hier zu kurz. Es braucht ein breitgefächertes und überregionales Kompetenzzentrum unter starker Bürger*innenbeteiligung. Ja, ohne die engagierte Beteiligung der Zivilgesellschaft wird es nicht mehr gehen. Behübschendes Ehrenamt greift zu kurz. Inzing war vor über 100 Jahren eine der ersten Gemeinden, die das Genossenschaftsmodell der Raiffeisenidee aufgegriffen hat. Warum soll nicht auch Pflege genossenschaftlich organisiert und getragen werden? Es würde mich freuen, wenn Inzing hier innovative Wege geht.

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Georg Schärmer

Geboren am 14. März 1956. Jahrelanger Leiter sozialer Einrichtungen und Bildungsstätten; zuletzt Direktor Caritas Tirol und Vizepräsident Caritas Österreich. Vorstandsmitglied von Pflegeeinrichtungen im In- und Ausland. Autor mehrerer Bücher, Publikationen und Herausgeber von Kulturformaten. Besondere Interessen: Musik, Literatur, Architektur und Sozialraumentwicklung. „Ziel des Schreiben ist es, andere sehen zu machen“ (Joseph Conrad)

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3 Gedanken zu “Pflege(heim)notstand

  1. Herzlichen Dank für diesen Beitrag, der viele wichtige Punkte nennt.
    Einen möchte ich noch hinzufügen: Es gibt Menschen aus Nicht-EU Ländern, die hier in Österreich oder in ihren Heimatländern eine Pflegeausbildung gemacht haben und hier arbieten wollen oder schon angefangen haben zu arbeiten. Doch sie bekommen keine längere Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis, denn um eine Rot-Weiß-Rot Card zu bekommen, sind die formalen Hürden erstaunlich hoch (war wohl mit Blick auf ausländische IT-Spezialist:innen konzipiert). Hier könnte man rasch und mit relativ wenig Aufwand etwas ändern und so Leute, die hier dringend gebraucht werden, im Land halten.

    1. Ganz deiner Meinung liebe Brigitte! Ohne qualifizierten Zuzug, Abbau bürokratischer Hürden wird es nicht gehen. Zumal in vielen Kulturen der alte Mensch eine besondere Würde und Respekt genießt.
      Danke für deine Reaktion, deinen Beitrag!
      LG Georg

  2. Was für ein großartiger Artikel! Danke Georg, denn du findest die richtigen & so so wichtigen Worte!!

    “Die Antwort darauf kann nur lauten: „Sie sagen, Sie könnten das nicht? Vermutlich haben Sie recht. Vielleicht auch, weil Sie es noch nie probiert haben. Aber eines sage ich Ihnen: Wir können es! Lassen Sie es uns tun! Yes, we can! Let’s do it!!”

    Ich möchte wirklich was tun!!

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