25. April 2024
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Frankfurter Buchmesse / 20.-24.10. 2021

© FBM 2021
Lesedauer ca. 3 Minuten

Gastland K A N A D A

https://www.buchmesse.de/themen-programm/ehrengast-kanada

Das Gastland der heurigen Frankfurter Buchmesse 2021 war Kanada, eine literarisch reichhaltige Region, deren Literatur sich aber erst seit den 1960er Jahren als kanadisch versteht und nicht mehr in der amerikanischen, englischen oder französischen Literatur aufgeht. Wer über die Entstehung dieses literarischen kanadischen Selbstbewusstseins (und des einheimischen Verlags- und Publikationswesens) etwas erfahren will, dem empfehle ich Margaret Atwoods spannende und amüsante Literarturgeschichte, Survival, von 1972, gerade auf Deutsch herausgekommen und immer noch ein erstaunlicher Einblick in das Schreiben im großen weiten Norden Amerikas. Francophon interessierte Menschen fragen nun wohl nach französisch schreibenden Kanadier:innen, die verweise ich mangels eigener Expertise auf das Zentrum für Kanadastudien der Universität Innsbruck, das sich gerade auch für die französischsprachigen Landesteile interessiert:

https://www.uibk.ac.at/canada/index.html.de

In den letzten Jahrzehnten wurden auch immer mehr indigene Autor:innen sichtbar. Sie schreiben zwar meist auf Englisch oder Französisch (vor allem, weil die indigenen Sprachen im 19. und 20. Jahrhundert durch staatliche Maßnahmen stark zurückgedrängt wurden), aber doch aus einer ganz speziellen Perspektive. Viele von ihnen erinnern an die Traumata, aber auch die Vitalität ihrer Vorfahren, von denen viele als Kinder von ihren Familien getrennt und nach europäischen Vorstellungen erzogen und zu billigen Arbeitskräften ausgebildet wurden. Einer davon ist Paul Seesequasis, ein Autor der Willow Cree Ethnie, er war in Frankfurt persönlich dabei.

Als Einwanderungsland bietet Kanada in seinen Landessprachen auch reichhaltige Literatur von Menschen aus aller Welt und in allen Hautfarben, die in Kanada eine neue Heimat gesucht und oft auch gefunden haben.

Auch wenn Alice Munro vor einigen Jahren den Literaturnobelpreis erhielt, so bleibt doch Atwood der Name, den man am meisten mit kanadischer Literatur verbindet. Ihr Engagement und ihr Einfluss ist nicht groß genug zu schätzen. Von ihrem ersten Erfolg, Die essbare Frau, über den mehrmals verfilmten Report der Magd, bis zu ihren spekulativen Dystopien der letzten Jahre hat sie immer wieder neue Welten aufgemacht, andere Sichtweisen als die genehmen, dabei „nichts erfunden“, wie sie immer wieder betont. Sie nennt ihre Dystopien „speculative fiction“ anstatt „science fiction“, weil alles, was darin vorkommt, in ähnlicher Weise schon irgendwo auf der Welt, irgendwann probiert worden ist. Siehe auch meine Rezension ihres Nachfolgebands zum Report der Magd, Die Zeuginnen, im DZ-Blog / zweites Buch:

Heute möchte ich Ihnen aber ein besonders ungewöhnliches Buch von Margaret Atwood vorstellen: Hexensaat (orig. Hagseed).

Es entstand aus der ganz speziellen Einladung an die Autorin, sich ein Drama von Shakespeare auszusuchen und den Stoff neu auf ihre höchsteigene Weise zu erzählen. Atwood entschied sich für „Der Sturm“, ein Stück über Machtmissbrauch, Verbannung, Eingeschlossenen-Sein, Rache, über die Verführung durch Magie und Tricks, aber auch über die Einsicht, loslassen zu können und erlittenes Unrecht nicht mit derselben Münze zurückzuzahlen. Gleichzeitig enthält das Stück viele magische und märchenhafte Elemente.
Atwood setzt Shakespeares Zauberer Prospero als den erfolgreichen Regisseur Felix, der sich um die Leitung eines Festivals bewirbt und mit unfairen Methoden um diesen Posten gebracht wird. Er zieht sich in die kanadische Halbwildnis zurück, mietet eine alte Hütte auf einer Farm. In dieser Einsamkeit erscheint ihm seine als Teenager verstorbene Tochter wieder und er lebt mit ihr zusammen wie früher.

Auf der Suche nach einem Minimum an bezahlter Arbeit wird er für ein Theaterprojekt im Gefängnis der nächstgelegenen Stadt engagiert. Obwohl er ohne großen Ehrgeiz daran geht, entwickelt sich das Projekt erstaunlich gut. Für die nächste Produktion kündigt sich eine neugierig gewordene Gruppe von Theaterprofis an, darunter der, der ihm die Festivalleitung wegnahm und verschiedene Leute aus seinem ehemaligen Umfeld. Da entwickelt der Regisseur einen ausgefeilten Racheplan.

Atwood gelingt dabei eine kleine, lustvolle Satire des Literatur- und Festivalbetriebs ebenso wie eine Umsetzung der Themen des shakespearschen Originals in der heutigen Gegenwart. Besonders gut beobachtet und unterhaltsam ist ihr die Gruppe der Häftlinge gelungen, deren jeweiliger Haftgrund sie für bestimmte Rollen besonders geeignet macht. Ihr gewohnt scharfer Blick und ihr untrügliches Gespür für fetzige Dialoge machen die Proben zu Shakespeare’s „Der Sturm“ im Gefängnis sehr amüsant. Aus Zauberklängen wird Rap und die Zugänge und Interpretationen der ungewöhnlichen Schauspieler rütteln auf spannende Weise am alten Stoff.

Die Aufführung vor dem hohen Besuch als Rache geht voll auf, doch jetzt ist dem Regisseur die Festivalleitung nicht mehr wichtig. Und er kann auch seine Tochter (oder ihren Geist) loslassen, die er in die Verbannung mitnehmen zu müssen glaubte.

Obwohl er auf einer fremden Quelle aufbaut, enthält auch dieser Roman vieles, was typisch für das Schreiben von Margaret Atwood ist: ironische Beschreibungen und Bemerkungen, präzise beobachtete Figuren, die scharfe Gegenüberstellung von weiten, offenen Außenumgebungen mit der Enge von genau abgemessenen und streng abgesperrten Innenräumen. Und man merkt ihr das Vergnügen an, sich mit theatralischen Mitteln ein “Rache ist Blutwurscht“-Szenario auszudenken.

Man muss Shakespeares Drama Der Sturm nicht kennen, um den Roman mit Genuss zu lesen, aber wenn man den Sturm kennt, eröffnen sich klarerweise zusätzliche Echos und Interpretationsfeinheiten.

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Brigitte Scott

Brigitte Scott lebt seit 20 Jahren in Inzing und ist hier im Chor Inigazingo, im Kulturausschuss als Vertreterin der Liste JuF und im Kulturverein aktiv. Bis zum Ende der gedruckten Dorfzeitung war sie viele Jahre deren (Mit)herausgeberin und vor allem an Kulturberichterstattung interessiert. Brigitte ist ursprünglich aus Salzburg und lebte 16 Jahre in England. Ihrem Beruf als Übersetzerin und Lektorin geht sie in reduziertem Umfang auch jetzt in der Pension noch nach. 2009 engagierte sie sich im Projekt Radio Enterbach und davor im Literaturprojekt Andern(w)orts, beide vom Kulturverein. Sie liebt Musik, als Chorsängerin und als rege Besucherin von Konzerten. Sie ist Mitglied des English Reading Circle, der sich jedes Monat trifft, um ein bestimmtes Buch zu besprechen, natürlich auf Englisch. Sie gartelt mit Freude, aber hauptsächlich nach der Methode "Versuch und Irrtum". Trotzdem findet sie immer wieder genug zu ernten, um ihrer Kochleidenschaft zu frönen. Saisonale und indische Küche, die sie in England erlernt hat, liebt sie besonders - und ihre Gäste ebenfalls.

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